Die Poesie nicht-recyclebarer, mit Aktionsbrötchen (10 Stück 1,29 €) gefüllter, an Garagentoren baumelnder Plastiktüten

Erster Akt, erste Szene: Eine Bushaltestelle in der märkischen Provinz. Nur für sich inszeniert der Wartende die strenge Choreografie der Sinnlosigkeit. Warten, in der Erwartung, dass nichts passieren wird. Ein Blick nach links, eine minimalistische Körperdrehung, ein Griff zur Zigarettenschachtel, das fein austarierte Mienenspiel nur unwesentlich von der Reglosigkeit entfernt. Moritz von Uslar als Soloperformer trägt Seidenblouson mit Karoinnenfutter, ein lonely rider, vom Epizentrum der Hippness in die ostdeutsche Ödnis gespült. Erster Akt, zweite Szene: Nachts im Windschatten der Dorfkneipe. Einziges Requisit ist die Zigarettenpackung aus der vorherigen Szene. Wieder kein Publikum. Text: “Es war so geil dunkel an dieser Ecke, wie ich das aus der Großstadt nicht kannte.” Erster Akt, dritte Szene: Auf PKW-Tour mit einem Ortskundigen. Von Uslar auf dem Beifahrersitz, Interesse suggerierend. Text: “Gut langweilig zwischendurch – und trotzdem genoss ich jede Minute.”

Wer genug hat vom Stadttheater, der begebe sich in die deutsche Provinz. Drei Monate lebte Moritz von Uslar in Zehdenick, einer Kleinstadt im Landkreis Oberhavel, gut machbare 60 Kilometer von Berlin entfernt, 13 471 Einwohner laut Wikipedia. “Deutschboden” heißt sein 2010 erschienenes Buch, im Untertitel “eine teilnehmende Beobachtung. Es ist das Dokument einer nur auf den ersten Blick ereignislosen Zeit. Jetzt kommt der gleichnamige Film in die Kinos.

Den von-Uslar-Sound muss man mögen; ich liebe ihn. Gleich, wie banal sein Gegenstand zu sein scheint (etwa die Karstadt-Filiale am Hermannplatz), er behandelt ihn mit gebotenem Ernst. Er liefert präzise Zustandsbeschreibungen aus der Mitte des Zustands heraus, nah genug, um kein Detail zu verpassen, entfernt genug, um Kritik zu üben. Dabei liegt der Reiz dieses Sounds darin, dass die Kritik implizit erfolgt, oftmals durch bloßes Benennen. Wenn von Uslar Substantive aneinanderreiht, braucht es keine diffamierenden Adjektive mehr. “Kratzputz”, “Raufasertapete”, alles gesagt. In Zehdenick, diesem Biotop menschlicher Verschrobenheit, trifft von Uslars Genauigkeitsprosa auf ihren idealen Gegenstand. Der Irrsinn der bundesdeutschen Provinz besteht ja, es reicht, mit dem Finger beziehungsweise Stift darauf zu zeigen. Für die Verfilmung von “Deutschboden” verlässt der Autor den Raum der Sprache und tritt auf der Bühne selbst in Aktion, inszeniert sich als rasenden Reporter, den “Deutschboden”-Text aus dem Off einlesend. Über weite Strecken adaptiert der Film die Vorlage, indem er von Uslars sprachlichen Selektionen die passenden Bilder beistellt. In der Praxis bedeutet das: Einfach mal Plastikerdmännchen filmen, weil man’s kann.

Am besten funktioniert der Film, wo die Dramaturgie sich zurücknimmt. Statt tatsächlicher oder scripted reality gleitet die Kamera über Provinzpanoramen, untermalt von der Stimme aus dem Off – das reicht, oder in den Worten des Reporters “mehr braucht kein Mensch.” Wir sehen “Mandy du bitch”-Graffitis, das Angebot der Eisdiele (Schoko, Vanille, Stracciatella), Rentner in Plastikgartenstühlen. Ein Fotorealismus, der an die Porträts August Sanders erinnert, einfach und streng in der Form, genial in ihrer soziologischen Dimension. Tritt das Stilmittel der slow motion hinzu, steigert sich die Banalität des Brötchenbeutels, der am Garagentor schlenkert, ins Erhabene.

Das Dorfleben verläuft in geregelten Bahnen. Es gibt die Applausordnung der von der Aral-Tankstelle abfahrenden Kleinwagen (getunt), die zwei Stunden Zeitunterschied beim Abendbrot am Sonnabend und unter der Woche, das kontrollierte Eskalieren im Club, der hier natürlich Disko heißt, Disko mit k. Es gibt die unverrückbaren, der Orientierung dienenden Tatsachen (“je weiter Du nach Osten fährst, desto geiler werden die Weiber”, jenseits der deutschen Grenze, versteht sich) und die Trias des guten Lebens, “Saufen, ficken, Alkohol.” Klar, dass der Reporter schnell mit den Einheimischen unter der sprichwörtlichen Decke steckt, sich mit ihnen gegenüber den Radlerleggins tragenden Touristen solidarisiert: “Was wollt ihr hier in unserer schönen Kleinstadt, ihr Arschlöcher?” Denn das ist es ja, was Dörfler an ihrem Dorfdasein schätzen, dass die Fleischereiverkäuferin einen Namen hat und nicht bloß die namenslose Instanz ist zwischen einem selbst und dem Hackepeterbrötchen. Fleischkonsum ist, nebenbei bemerkt, die absolute Voraussetzung für eine geglückte Integration in den Zehdenicker Mikrokosmos, wo Kinder mit Wurstscheiben als zukünftige Kunden an die örtliche Metzgerei gebunden werden (seit 100 Jahren im Familienbetrieb geführt). Wo sich Sonntags die Esstische unter Bergen von Fleisch biegen und Seen von Maggi-Fix-Jägersoße (Beilagen haben Alibicharakter). Wo Grillparties die Äquivalenz sind zum “Berliner Parkett” (O-Ton von Uslar).

Bei genauerer Betrachtung ist die Gleichförmigkeit der deutschen Provinz frappierend. Auch ich wurde in einem Wohnzimmer mit vom Zigarettenrauch vergilbter Tapete tätowiert (“Raufasertapete”), umgeben von Überraschungseiersetzkästen. Damals fand ich das ziemlich rock’n roll. Schwäbische Proberäume sehen genauso aus wie die Abrissbude, in der die Alternativerockband “5 Teeth less” sich austobt. In den mir heimischen Gefilden werden nach dem vierten Bier, das in Brandenburg Molle heißt, die selben schaurigen Schlager angestimmt. Statisten und Bühnenbild sind variabel, das Stück mit dem Titel “Deutsche Provinz” bleibt dasselbe.

Handelt es sich dabei um eine Komödie, ein Drama, ein Lustspiel? Einmal heißt es, Deutschland sei “ein feiner Kerl.” Beim Anblick von Feuerwerkskörpern, die im Licht der untergehenden Sonne auf kaum frequentierten Supermarktparkplätzen verglimmen, glaubt man das gerne. Allerdings ist die offensichtliche Schönheit zu relativieren, die sich beim Betrachten der “Deutschboden”-Bilder einstellt. Denn es ist Sommer und Sommer ist überall gut. Im Sommer friert keiner auf den Nachtschalterparties vor Aral. Des nachts lässt sich versonnen ins Lagerfeuer blicken und beim Ortskern-Cruisen baumelt der Unterarm so durchblickermäßig aus dem Fenster. Besser also, wir kehren nicht nach Zehdenick zurück, wenn es kalt ist und grau. Dann geht der einzige Bushaltestellendarsteller von der Bühne ab und der Vorhang fällt. Dann ist da nur noch: Stillstand.