“Die Mauer in den Köpfen wegballern”: mein Ausflug in die Trivialkultur, erster Teil

Vor nicht allzu langer Zeit verschlug mich der Zufall (wenn man so willl) in das Berliner DDR-Museum. In bester Uferlage, mit Blick auf den Berliner Dom und die Museumsinsel, ist dieses Museum ausgestattet mit allen Finessen der Informationstechnologie, mit Touchscreens mit Telefonhörern, sprechenden Kleiderschränken, einer magischen Verhörzelle. Ausnahmsweise versteht man einmal, wo die Stadt ihren Kulturetat verbrät! Die Fläche ist überschaubar, kein Vergleich zu den hallenartigen Ausmaßen einer Gemäldegalerie. Und doch: Selten sah ich solche Menschenmassen auf so engem Raum. Das ging so weit, dass einige der sogenannten Exponate gar nicht einzusehen waren, weil ein steter Strom Wartender den Zugang blockierte. Damals dachte ich mir: Wie schön, dass Berlintouristen sich nicht nur für das Berghain und die East Side Gallery, sondern auch für die Geschichte der Stadt interessieren. Das DDR-Museum ist Bildung light oder Kultur für Leute, die sich nicht für Kultur interessieren. Das meine ich nicht so abwertend, wie es sich möglicherweise liest.

Ein ganz ähnliches Erlebnis widerfuhr mir im Stage Theater am Potsdamer Platz, da ich auf wundersame Weise in den Besitz einer Freikarte für das Musical “Hinter dem Horizont” gelangte. Bei meinem letzten Musicalbesuch war ich etwa acht Jahre alt und ich erinnere mich an die Wichtigkeit dieses Abends, dem meine Eltern und ich durch unsere schicke Garderobe Tribut zollten. Entsprechend ernst nahm ich die Kleiderfrage. Viel zu ernst. Anders als das Stuttgarter teilt sich das Berliner Musicalpublikum in zwei Lager: Die Pragmatiker, überwiegend männlich, die es nicht für nötig halten, sich nach der Arbeit umzuziehen und die Eiferer, überwiegend weiblich, die glitzern (ihr Dekolleté) und pressen (ihr Hüftspeck) und deren Schwanken darauf schließen lässt, dass sie es nicht gewohnt sind, hohe Schuhe zu tragen. Mandy aus Hellersdorf auf Zehn-Zentimeter-Plateaus neben Pankow-Uwe, der sein Holzfällerhemd (nicht zu verwechseln mit jenem des Mittehipsters!) trägt wie eine Auszeichnung. Endlich mal eine Abwechslung zum immergleichen stilsoliden Stadttheaterpublikum.

Dessen Zusammensetzung offenbart sich mir allerdings erst in der Pause, weil ich peinlicherweise zu spät komme. Das Personal des Stage Theaters ist überbesetzt und in jeder Hinsicht professionell. Unverzüglich nimmt sich eine junge Frau meiner an, die mich nicht nur persönlich zu meinem Platz geleitet und mir zur Freikarte gratuliert, sondern auf dem Weg dorthin die verpasste Handlung nacherzählt.

Ach ja, die Handlung. “Hinter dem Horizont” ist so etwas wie die vorgezogene Posthuminisierung von Udo Lindenbergs Lebenswerk. Im Zentrum steht wie immer eine Liebesgeschichte, in die Schwung kommt durch ein uneheliches Kind. Wie hoch der nicht-fiktionale Anteil daran ist, wollte ich googeln und hab es dann wieder vergessen. Udo Lindenberg lebt noch, der Rest ist egal. Es ergeht mir wie Amélie Poulain, die im Kino lieber die Menschen um sich herum beobachtet, als auf die Leinwand zu schauen. Im Takt wippende Vokuhilas und zartrosa Dauerwellen, Vorschulkinder, die sich vor Daseinsfreude kaum auf ihren Sitzen halten können: Das ist großes Kino in der fünften Sitzreihe! Bis zur Hälfte des Abends war ich mir übrigens sicher, Elmar, der Bruder von Lindenbergs Geliebter, sei Lars Eidinger (er war es nicht).

Weil es ein Muscial ist, wird viel gesungen. Von der Stimmung her befinden wir uns in einer Konzerthalle im Ruhrgebiet, im festen Griff der Lindenberg-Community. Viele sprechen die Lyrics ihres Idols stumm mit (“Mut” reimt sich auf “gut”). Von Textsicherheit kann bei mir keine Rede sein; immerhin glaube ich die Zeile “Sonderzug nach Pankow” schon einmal gehört zu haben. Das Bühnenbild ist verschwenderisch und erinnert momentweise an Luc Bondy (alles larger than life) oder Castorf (kyrillsche Schriftzüge, Drehbühne, inflationärer Einsatz von Video). Es kleckert nicht, es klotzt: Für den stolzen Eintrittspreis von fünfzig Euro aufwärts kriegt das Publikum eine Megashow geboten. Schaut man einmal dreißig Sekunden nicht zur Bühne (zum Beispiel, weil man sich etwas notiert, was die Nebensitzer sichtlich verwirrt), steht da ein riesiges Bett auf der Bühne oder ein Hut von wenigstens sieben Metern Durchmesser, Lindenbergs Markenzeichen nachempfunden. Dann regnet es Papierschlangen. Weil ich mittendrin sitze (auf einem Platz, den ich mir im Normalfall niemals leisten könnte!), kriege ich besonders viel ab. Von nun an wird jede Bewegung von einem Rascheln begleitet und beim Aufstehen wate ich durch einen Papierschlangenberg, wobei einige an meinen Schuhen kleben bleiben, was nicht ganz so peinlich ist, wie wenn es Klopapier wäre.

Ein kleines Highlight im für den auf neunzig Minuten konditionierten Theaterbesucher viel zu langen Drei-Stunden-Abend ist die Pause. Erstaunlich viele nutzen den Service, vorab einen Stehtisch zu reservieren, auf dem dann die Bestellung (viel Sekt, viel Bier, keine Brezeln) drapiert wird. In der gönnerhaften Geste des Familienvaters, ein Tischkärtchen mit seinem Namen versehen zu lassen, manifestiert sich das Statusstreben des Quartalstheatergängers.

In der zweiten Hälfte des Abends bin ich voll und ganz damit beschäftigt, über die geschichtstümelnde Bühnenästhetik zu staunen, über das konsequent ausgeführte Ost-West-Gefälle, die Ampelmännchenfolklore, die Sandmännchen, die Stasiwitze. Alte russische Frauen tragen Kopftuch und laufen gebückt, junge russische Frauen tanzen den Schwanensee. Für eine solche Klischeeparade würde jeder Regisseur abgestraft; ich erinnere hier an den kleinen Skandal beim diesjährigen Theatertreffen um Sebastian Baumgartens “Heilige Johanna der Schlachthöfe”, dessen dämliche Zitatsammlung in lupenreinem Rassismus gipfelte. Zudem berlinern praktisch alle Darsteller derart unauthentisch, dass sie überall sonst ausgelacht würden, gerade von einem ortsansässigen Publikum.

Aber von Häme keine Spur! Wenn die Schauspieler Kontakt zum Publikum aufnehmen, geht das nie nach hinten los. Wenn die Schauspieler einen Witz machen, lacht das Publikum. Szenenapplaus. Herkömmliche Handlungsoptionen, die man als Zuschauer hat (pfeifen, buhen, mitten im Stück gehen, dabei mit den Türen schlagen) erübrigen sich in dieser kumpelhaften Athmosphäre. Im Gegensatz zum immer pikierten Stadttheaterpublikum, das dem Theaterbetrieb im Allgemeinen und der jeweiligen Aufführung im Speziellen stets mit Feindseligkeit begegnet, ist die Stimmung im Stage Theater eine heiter-Aufgekratzte. So, wie sich die mangelnde Theatererfahrung in der Unbeholfenheit der Abendgarderobe ausdrückt, verrät auch dieses Aufgekratztsein, dass die Anwesenden wohl eher nicht im Besitz eines Theaterabos sind.

“Hinterm Horizont” war ein ästhetisches Erlebnis in der Light-Version. Banal in seiner Handlung, nervenzehrend in seiner Überlänge, dafür mit einem gut gelaunten Ensemble und einem glänzend aufgelegten Publikum. Ähnlich dem DDR-Museum kann man das weder richtig lächerlich, noch richtig doof finden. Mehr noch, man erwischt sich ab und an dabei, Spaß zu haben und findet sich prätentiös in seiner didaktischen Einordnung von Kunst und Nicht-Kunst. Zumal das Stage Theater bis auf den letzten Platz besetzt ist, also offenbar wie das DDR-Museum kein Problem hat mit mangelndem Interesse, auch nicht nach der tausendsten Vorstellung. Und ist Kultur light nicht allemal besser als Kultur zero?

Beim Rausgehen schaut man nur in glückliche Gesichter. Das ist mir im Theater lange nicht passiert. Und wie kurz zuvor alle, wirklich alle standing ovations geben und sich praktisch in den Armen liegen vor Glückseligkeit und sich ihrer tatsächlichen oder gefühlten Haupstadtzugehörigkeit durch Mitsingen der Zeile “Seid willkommen in Berlin / ihr Verrückten gehört dahin” versichern und performativ die “Mauer in den Köpfen weggeballern” – das ist eine Premiere.