Deutschland, Deine Wurstgesichter

Inga Sandberg weint. Inga Sandberg weint? Dabei hatte man dieser Yuppieschnepfe bisher jegliche Gefühlsregung abgesprochen. Man hasst sie für ihre herablassende Art dem Kundenservice gegenüber und dafür, wie selbsgerecht sie sich auf dem Beifahrersitz des Mietwagens breitmacht. Die Welt um sie herum erträgt eine wie sie nur mit Spott. Und plötzlich das – Inga Sandbergs verheultes Gesicht in Großaufnahme. Für einen kurzen Moment ist es, als zerbreche die Wand aus Ironie und etwas Echtes blitze auf, wie ein Sonnenstrahl eine Wolkendecke zerreißt. Dann wird es wieder finster.

“Finsterworld.” Schon der Titel knallt, man denkt sich: Wow, wie kommt jemand auf so was? Frauke Finsterwald heißt die Regisseurin, es ist ihr erster Spielfilm nach Jahren der Dokumentarfilmerei. Frauke Finsterwald ist verheiratet mit dem Schweizer Schriftsteller Christian Kracht, der auch am Drehbuch beteiligt war. Kracht ist so etwas wie die große Leerstelle im deutschsprachigen Litearaturbetrieb, eine Leerstelle mit Bürstenhaarschnitt und Gentlemanattitüde und zugleich ein beispielloser Connaisseur der Selbstinszenierung. Würde es nicht so abgegriffen klingen, man würde schreiben: Ironie ist sein zweiter Vorname. Schauplatz von “Finsterworld” ist Deutschland, ein föderalistisches Deutschland, in dem immer die Sonne scheint. Berlin ist so weit weg wie die Grenzen zu den Nachbarstaaten. Landstraßen schlängeln sich unter Tannen hindurch, vorbei an blühenden Feldern. Die kleinstädtischen Parkbänke sind immer frisch gestrichen. Dem Polizeiapparat ist derart langweilig, dass er sich mit einem Potpourri von Fußpflegeprodukten bestechen lässt. Hier kreuzen sich die Schicksale sonderbarer Existenzen: Eine Schulklasse macht einen Ausflug zu einer KZ-Gedenkstätte, darunter der Schnösel Maximilian und die Außenseiter Natalie und Dominik. Ihrem Desinteresse die deutsche Geschichte betreffend verleihen die Privatschüler Ausdruck, indem sie ihren Klassenlehrer mit “Heil Hitler, Herr Nickel!” ansprechen. Maximilians Eltern fahren mit einem gemieteten Cadillac in Richtung Paris, es wird dabei viel auf Deutschland geschimpft. Maximilians Großmutter lebt im Pfelgeheim, ihre größte Freude sind die Besuche des Fußpflegers Claude, der heimlich in die alte Dame verliebt ist. Die Dokumentarfilmerin Franziska verzweifelt an der Sinnlosigkeit ihrer Arbeit, während ihr Freund, der Streifenpolizist Tom, sich in seiner freien Zeit als Plüschtier verkleidet. Und schließlich gibt es den namenlosen Einsiedler, dessen dramaturgische Funktion bis kurz vor Schluss unklar bleibt.

Dass der Filmtitel mit dem Namen seiner Regisseurin korrespondiert, kann kein Zufall sein. Der finstere Wald ist ein urdeutsches Motiv, das sich von den Gebrüdern Grimm über die Romantik bis zum Symbolismus zieht. Indem sie “Wald” durch “world” ersetzt, erklärt sie diesen Wald zur in sich geschlossenen Welt, zum unheimlichen Mikrokosmos, der seine Bewohner mit seinem Deutschsein durchdringt. Es ist viel geschrieben worden über dieses Deutschsein in “Finsterworld.” Am offenkundigsten zeigt es sich in der nationalsozialistischen Metaphorik, dem KZ-Besuch als pädagogischem Zwang zum Nicht-Vergessen und im Hakenkreuz, das sich durch die Drehbewegung der Cadillacfelgen ergibt; ein Umstand, der angeblich erst durch Zufall beim Schneiden entdeckt wurde. Das jedenfalls behauptet das Ehepaar Finsterwald/Kracht – und was soll man anderes tun, als ihnen zu glauben?

Dabei geht es “Finsterworld” vor allem um eines: Ironie. So lautet die Diagnose des postmodernen Menschen, der Zwang alles durch eine Brille der Abgeklärtheit zu filtern. Ohne Abstand ertragen wir nicht die Welt, nicht die Schönheit eines Schmetterlings in der Frühlingssonne, nicht die Heimeligkeit bekannter Melodien, geschweige denn tiefe Empfindungen. Das, was Goethe zufolge das Deutschsein ausmachte, das Erhabene, die Seele, die weite Landschaft des Geistes, ist einem permanenten Relativierungszwang gewichen.

Alle Personen im Film sind Ironiker, ihre dem Zuschauer so vertrauten Worthülsen sind  durch inflationären Gebrauch seltsam ausdruckslos geworden: “Ich lieb das ja, wenns gut gemacht ist”, “Lächeln ist das kleine Glück”, “Wie nett es bei uns aussieht” und, der Klassiker des Komfortatheisten, “Ich glaub, dass da was ist.” Nathalies offen propagierter Nerdstatus geht einher mit einem “Brillo Brillengestell” (heiß begehrt in den Hipsterhochburgen von Neukölln bis Brooklyn) und einer Vorliebe für US-amerikanische Comics. Wenn die Dokumentarfilmerin Franziska Fertigspaghetti essend am Elend ihres Porträtierten teilhat, dann nur als Masche auf dem Weg zum wirklichen Abfuckmoment, den sie “neuen Neoliberalismus” nennt. Empathie für den Mann vor der Kamera? Nein, und bitte beiseite schauen, sonst fühlt sich der Zuschauer betrogen in seinem Elendsvoyeurismus. Franziska ist es auch, die den allgemeinen als Vorwurf an ihren Freund Tom das Motto des Films formuliert: “Nie kannst Du ernst sein! Immer musst Du alles in Anführungszeichen setzen!” Tom wiederum hält sein seltsames Hobby auf Trab: Als Eisbär verkleidet trifft er sich mit anderen sogenannten Furries, um im tierischen Spiel den Ernst des Lebens zu vergessen. Diese Bilder von Erwachsenen in Tierkostümen, die Assoziationen an Elfriede Jelineks Swingergroteske “Raststätte” wachrufen, gehören zu den absurdesten Bildern in einem an absurden Bildern nicht armen Film. Dabei steht die Furry-Bewegung für die traurige Erkenntnis, dass wir nicht einmal beim Feiern aufhören können, uns selbst zu reflektieren, außer wir tragen dabei ein Ganzkörperhasenkostüm. Und selbst Claude muss seine empfindsame Natur hinter einer Neurose verstecken. Jedesmal, wenn er die Füße seiner Angebeteten pflegt, sammelt er den herabfallenden Fußstaub in einem Tuch und verbackt ihn zu Keksen. Mit Liebe, versteht sich. I love you but I’ve chosen Hornhaut! Claudes Faible für deutsche Volkslieder wie “Ein Vogel wollte Hochzeit machen” deckt sich mit der Rehabilitation des deutschen Schlagerpops, der natürlich unbedingt ironisch zu verstehen ist.

Alles ist Zitat, alles sucht nach Referenzen auf vergangene Zeiten, die Werthers Echte Fernsehwerbung, die Straßenszene im französischen Arthousekino, die Sixtieslampe im imaginierten Tankstellencoffeeshop. Der Perwollsoundtrack und die weichgezeichneten Bilder tun ein Übriges. Sie erwecken den Eindruck einer ZDF-Vorabendserie, die nur derjenige konsumieren darf, der diesen Akt als guilty pleasure begreift und die Dekodierung ironischer Verweise auf so etwas wie Heimat.

Wenn die Hakenkreuzfelgen in “Finsterworld” das immanente Deutschsein bebildern, dann ist die Wurstscheibe mit Gesicht das im wahrsten Sinne fleischgewordene Symbol der Ironieversessenheit unserer Generation. Diese Gesichtswurstscheiben gibt es ja wirklich und man muss von Zynismus sprechen angesichts eines Akts, der dem realen Opfertier post mortem eine debil grinsende Identität verleiht. Ein solches Wurstgesicht krönt das Pausenbrot des Empfindlings Dominik, dem einzigen Vertreter der Aufrichtigkeit im ganzen Film. Mit den Augen eines Romantikers (im urdeutschen Sinne) sieht er die Welt, er spricht mit Hirschkäfern und verzehrt sich vor Sehnsucht nach seiner Nebensitzerin Natalie, die sich, Ironie des Schicksals, vom Schnösel Maximilian um den Finger wickeln lässt. So ist es nur konsequent, dass Dominik an seinem Gefühlshaushalt zu Grunde geht, erschossen vom namenlosen Einsiedler durch die Frontscheiben des Mietwagens hindurch. Mit Dominik stirbt jede Hoffnung auf Verbindlichkeit, darauf, die Ironiedauerschleife zu durchbrechen, zugunsten echter Empfindungen. Zurück bleibt das Ehepaar Sandberg als Augenzeugen des Mordes. Das ist der Moment, in dem Inga Sandberg weint. Vielleicht empfindet sie gerade wirklich etwas. Derweil staunt man, wie einwandfrei ihr cremefarbenes Etuikleid ihrem zarten Teint schmeichelt und wie gekonnt es die Farben der umliegenden Landschaft aufgreift.