Der Kater lässt das Schmausen nicht

Erinnert sich noch jemand an die humoristische Abwandlung des Whiskas-Slogans „Katzen würden Whiskey saufen“? Kein Whiskey hier, stattdessen Wodka. In Kombination mit Tomatensaft und Tabasco ergibt das bekanntlich die schauerliche Kompostion mit Namen „Bloody Mary“. Dazu ein Stängel Frühlingszwiebel? Zitronengras? Es handle sich, so versichert mir meine bestens mit der örtlichen Getränkepolitik vertraute Begleitung, um eine Art Geheimrezept, benannt nach seiner geistigen Mutter, sozusagen: „Bloody Christal“. Mary, Chrystal, einerlei, denke ich mir und unter größter physischen Anstrengung gelingt es mir hoffentlich bald, besagten Drink ohne sichtbaren mimischen Ekel hinunterzuwürgen. Nichts für ungut, liebe Chrystal, nur eine persönliche Aversion. Alkohol mit Gemüse, noch dazu kombiniert mit Tabasco, das sind für mich mindestens zwei Paar Schuhe – Mittagsessen und Drink – und funktionierte, wie an früherer Stelle ausgeführt, schon nicht unter dem Stichwort „Mexikaner“.

Leider kann von einer guten Grundlage, auf die inständigem Hoffen zum Trotz, man möge mir doch irgendeinen anderen Drink bestellen, jetzt also diese Scheußlichkeit darniedergeht, nicht die Rede sein. Im Klartext: Ich habe Hunger. Und das, obwohl ich gerade eine gefühlte halbe Monatsmiete für ein zweigängiges Menü bezahlt habe (eine Übertreibung, gewiss, aber der knurrende Magen verzerrt die Wahrnehmung).

Dabei hat man sich gleich so wohl gefühlt. Draußen schon, auch wenn die Absätze da im Industrieschlamm hängen blieben. Auf dem Weg durchs schummrig-atmosphärische Labyrinth aus Gängen, höhlenartigen Raumkonstruktionen und Treppen mit Einsturzgefahr, das wirkt, als warte es nur auf die Abrissbirne, tut es natürlich nicht, ist einfach nur schön abgefuckt, wie man so sagt. Überraschend und dann natürlich wieder nicht (sofern Grundkenntnisse der Regeln der Berliner Clubkultur vorhanden sind) öffnet sich im obersten Stock des Hauptgebäudes eine Tür, ein Schwall warmer Luft schlägt einem entgegen und man steht im Eingangsbereich, vor sich eine ungemein fantasievoll gekleidete junge Frau, vor sich wiederum ein dickes, in Leder gebundenes Buch, in dem sie jetzt nach dem Namen ihres Gegenübers sucht und versichert, der reservierte Tisch sei sofort „fertig“. Zeit, den Blick schweifen zu lassen über voll besetzte Tische mit bunt zusammengewürfelten Stühlen drum rum, auf denen ein in seiner Heterogenität kaum zu übertreffendes Publikum sitzt, speist, schnabuliert. Business-Menschen im Anzug, Mädchencliquen in Mitteschick, Patchwork-Familien, Paradiesvögel. Ein Flüstern verrät, der Herr auf halb zwei sei ein erfolgreicher Modedesigner, nur welcher, das mag der Stimme an meinem Ohr gerade nicht einfallen. Eine Tischgesellschaft im hinteren Teil des loft-artigen Raumes setzt sich zusammen aus ausnahmslos schönen, dünnen Frauen und ausnahmslos interessanten, gut angezogenen Männern, deren Attitüde auf eine gekonnte Mischung von lässig, nachlässig und bewusst inszeniertem Mitglied-der-Kreativbranche-Look schließen lässt. Freunde des Hauses, flüstert die Stimme. Bevor der neugierige Blick Gefahr läuft, in peinliches Starren überzugehen, geleitet einen die Dame mit dem Lederbuch zu Tisch.

Bis zum Boden reichen die panorama-artigen Fenster und dahinter leuchtet der Fernsehturm mit einer solch selbstverständlichen Gefälligkeit, als bestehe seine alleinige Daseinsberechtigung in der Vervollkommnung der Atmosphäre dieses sowieso schon sehr atmosphärischen Raums. Außer mir scheint das keiner zu bemerken und ich fühle mich gleich wieder wie eine Starrerin, weswegen ich beschließe, die Skyline den Übrigen gleich zu ignorieren. Zumal jetzt die Speisekarte meine ganze Aufmerksamkeit einfordert.

Erstaunlich bescheiden präsentiert sich diese auf einer einzigen DIN A4 Seite. Wechselnde Wochenkarte! Die Vorspeisenauswahl lasse ich mal großzügig beiseite, obwohl die Salatvariation verlockt. Selbst bei drei Möglichkeiten sehe ich mich vor eine kaum zu bewältigende Entscheidung für eines und somit gegen zwei andere Hauptgerichte gestellt: Manchmal bestimmt das Los, manchmal der Preis. Ergo fällt meine Wahl auf das „Polentatörtchen mit Parmesanschaum, garniert mit einer Auswahl an saisonalem Gemüse“ (so in etwa der Wortlaut, den ich beim besten Willen nicht mehr perfekt rekonstruieren kann). Lieb von dem ausgesprochen attraktiven Kellner, der fast anmutig unsere Getränke balanciert, dass er als kleines „Amuse gueule“ (wie poetisch kann ein Substantiv sein?) einige Scheiben Brot mit einem Dip aus Olivenöl und Essig serviert und dass die beiden Sorten Brot die mit Abstand schmackhaftesten sind, die ich, wie ich glaube, jemals probiert habe („schmackhaft“ erscheint da als Bezeichnung beinahe obszön). Lieb auch deswegen, weil das Brot nicht entfernt wird, als der Hauptgang naht, was bedeutet, dass immerhin eine kleine Chance besteht, nicht mit einem Loch im Bauch vom Tisch zu gehen. Das folgerichtig im Diminutiv angekündigte Törtchen hat nämlich die Ausmaße eines Toasts, darauf je pimaldaumen drei hauchdünne Scheiben Zucchini und rote Paprika. Immerhin haben es noch einige einsame Blättchen Rucola dazu geschafft. Nicht, dass es nicht schmeckte: Besonders der Parmesanschaum überzeugt durch intensiven Geschmack (ausnahmsweise: Ein Hoch auf die Molekularküche!). Es ist nur einfach: Zu wenig. Während ich verzweifelt die letzten Tropfen Öl in die letzte Scheibe Brot sauge, schaue ich mich hilfesuchend um: Geht es vielleicht nur mir so? Bin ich einfach zu gierig? Kriege ich den Hals nicht voll? Meine Begleitung lobt derweil ihr handtellergroßes Steak, zu dem sich drei Kartoffeln gesellt haben, in den Himmel.

Verständlicherweise haben sich meine Bedenken, ob nach dem Hauptgang noch Platz für ein Dessert sei, als unbegründet erwiesen. Das Mädchen mit dem Iro und der perfekt sitzenden Cheap Monday plaudert über den DJ, der später auflegen soll und empfiehlt „Vanille, Krokant, Waldbeere“. Klingt gut, jaja, wobei man sich unter der Kombination dreier Zutaten ja eine ganze Menge ausmalen kann. Weil mir aber im wahrsten Sinne des Wortes schon wieder (oder immer noch?) das Wasser im Munde zusammen läuft und ich Mohn so gerne mag und diesmal der Preis kein Kriterium sein kann, da alle drei Desserts gleich teuer (ich betone: Teuer) sind, wähle ich „Mohn, Zitrone, Rote Beete“. Wieder nimmt der Teller den halben Tisch ein, darauf zentriert: Ein Scheibchen Mohnkuchen, schätzungsweise 3 cm im Durchmesser, ein Kleckschen Zitronensorbet an seiner Seite und schließlich: Ein ebenfalls hauchdünnes Etwas, das sich als die angekündigte Rote Beete entpuppt, raffiniert platziert unter der Mohnkreation. Obendrauf ein Stängelchen, das nach Krokant schmeckt, zum Dippen vermutlich. Auch hier muss gesagt werden: Bis auf das doch sehr gewöhnliche Zitroneneis schmeckt alles. Wenn auch die Kombination ungewöhnlicher Geschmacksrichtungen (Rote Beete!) an innovativem Charakter verloren hat, kann ich Gemüse im Nachttisch doch mehr goutieren als in meinem Drink und so genieße ich jeden der sechs Bissen. Nur leider ist alles schnell zu Ende und schwupps, hastdunichtgesehen der Teller leer.

Bevor ich nun von Angesicht zu Angesicht der exorbitanten Rechnung entgegentrete, verwöhnt uns das aufmerksame Personal mit einem Digestif, vulgo Schnaps, der so unglaublich intensiv nach Haselnuss schmeckt, das man glaubt, jeder bis dato verzehrte Haselnuss müsse ihre Daseinsberechtigung abgesprochen werden. Nahtlos setzt sich die Geschmacksexplosion anschließend fünf Meter weiter an der Bar fort, leider negativ gefärbt. Da prasselt ein Feuer im offenen Kamin, da laden massige, schwarze Sessel zum Versinken ein oder zur Regeneration, am Besten zusammen mit einem der Drinks, die den hier zelebrierten Feiermarathon schon im Namen tragen. Einen, das heiß jeden auf der Karte hätte ich, siehe oben, meinem Tomatenpansch vorgezogen, aber da war mein Gönner schneller als ich. So kommt es, dass ich mich an dem Longdrinkglas in meiner Hand festhalte, mir noch einmal die Gewichtigkeit dieses Ortes in Erinnerung rufe, gegen die latente Übelkeit ankämpfe, mich frage, wie lange ich die folgende Party aushalten werde, bis ich vor Hunger nach Hause fahre (Nachtrag: Nicht lange) und schlussfolgere: Katzen würden, erstens, lieber Whiskey saufen und, zweitens, lieber schnurren als ihren Magen grummeln hören.