Der hellste Stern am Bühnenhimmel

Früher, das heißt so in der achten, neunten Klasse war demjenigen, der sich einen, natürlich gewaltsam entwendeten Mercedes Stern als Kette um den Hals hängte, ein Aufstieg in der sozialen Hierarchie sicher. Da schwang neben dem aufkommenden Interesse für Modeschmuck im Allgemeinen natürlich ganz viel subversiver Charme mit und der Nervenkitzel, den man beim Entwenden eines solchen Objekts verspürt.

Daran muss ich denken, heute, hier auf der Daimler Aktionärshauptversammlung, auf der ich durch, nun ja, Zufall gelandet bin. Ein wenig fühle ich mich wie eine Zeit-Kolumnistin, die eine Glosse für die Rubrik “Was mache ich hier?” schreibt. Oder doch eher wie eine Theaterkritikerin?

Einen ersten Spannungsbogen setzt die Situation im Eingangsbereich. Metalldetektoren, Kisten, in die Taschen, Mäntel etc. eingepackt und durchleuchtet werden. Scheren und andere spitze Gegenstände werden vom Sicherheitspersonal einbehalten. Eine Flughafenkontrolle ist nichts dagegen. Die Terrorgefahr scheint jedenfalls gebannt und so macht sich der neugierige Besucher auf, die heiligen Hallen des ICC zu erkunden.
Was gleich zu Beginn auffällt: je jünger die Anwesenden, desto besser gekleidet. Passt ja auch ganz gut zur aktuellen Shell-Studie, die besagt, dass die jungen Leute wieder mehr Wert auf Werte legen. Die Mehrheit der älteren Besucher scheint ihr Touristenoutfit – denn offensichtlich sind die Meisten von ihnen aus dem Schwabenland angereist – gleich anbehalten zu haben und beim Anblick all der ausgelatschten Sportschuhe und Windbreaker scheint die Behauptung, die Deutschen hätten in Stilfragen keine Ahnung, ihre traurige Bestätigung zu finden.

Dass es sich mehrheitlich um Schwaben handeln muss, zeigt zudem das Verhalten der Gäste. Gierig werden Quarkbällchen am Buffet aufgeladen, als gelte es, sich ein letztes Mal satt zu essen. Die Quarkbällchen gehören, nebenbei bemerkt, leider zum Besten, was das Catering zu bieten hat. Die Croissants sind trocken, der Kuchen ganz bestimmt nicht selbstgemacht und zum Mittagessen gibt es solide Hausmannskost. Kann man nicht viel machen und den Weitgereisten schmeckts, aber kulinarische Highlights (die man, mit Verlaub, bei einem solchen Event schon irgendwie erwartet hat) sehen anders aus. Ach ja, statt Champagner wird Bonaqua ausgeschenkt. Was will uns die Firma damit sagen? Alkohol schadet der Wirtschaft und dem gesunden Menschenverstand? Oder war da etwa nicht genug Kapital für ein anständiges Buffet vorhanden?

Auf Anfrage erhält man vom freundlichen Mitarbeiter an einem der zahlreichen Messestände den Jahresbericht der Firma, der in der schmucken Daimler-Tragetasche spazieren getragen werden kann und erstaunlich viel wiegt – da ist wohl Einiges passiert!

Kunsttechnisch aufbereitet wurde das Thema ja auch schon. Spontan fällt mir da Tillmans ein, der in seiner typischen Schnörkellosigkeit einfach mal das allseits bekannte Logo, den sich drehenden Stern auf dem Dach der Firma gefilmt hat. Kapitalismuskritik light.
Mein persönlicher Favorit ist allerdings das 2009 vom auch sonst ganz fabelhaften Kollektiv Rimini Protokoll initiierte Projekt “Hauptversammlung.” Durch den Kauf von Aktien kam Rimini Protokoll in den Besitz von zweihundert stimmberechtigten Plätzen, die dann an interessierte Theaterbesucher vergeben wurden. Hier begann und endete die inszenatorische Arbeit der Künstler, den Rest erledigte Daimler, wenn man so will, höchstpersönlich.

Alles ist Theater, das haben wir ja schließlich im Studium gelernt und erfreulicherweise wird die Theorie vom theatrum mundi ausnahmsweise mal konsequent umgesetzt. Denn dass das hier Theater in seiner reinsten Form ist, beweisen nicht nur die zahlreichen “Statisten” – Hostessen mit Zahnweiß-Lächeln, junge Kerle mit niedlichen türkisfarbenen Halstüchern, deren Aufgabe weitestgehend unklar bleibt – und der minutiös durchgeplante Ablauf der Veranstaltung, sondern ganz besonders die tatsächliche “Bühnensituation.” Eine unüberschaubare große Zahl von Sitzreihen (einem griechischen Amphitheater nicht unähnlich!) bietet einer unüberschaubar großen Anzahl von Daimler-Aktionären Platz, um der nicht enden wollenden Rede, deren Monologhaftigkeit nur an wenigen Stellen unterbrochen wird, des Firmenvorstands zu folgen. Selten kommen auch andere wichtige Menschen zu Wort; ich allerdings interessiere mich besonders für die etwa fünfzehn Personen im Hintergrund der Bühne. Einige davon sitzen frontal zum Publikum an einem langen Tisch, andere telefonieren, machen sich Notizen und erinnern dabei an die Mitarbeiter bei Aktezeichen XY, die während der Sendung die Anrufe der Zuschauer entgegennehmen oder an die Protagonisten in Kathrin Rögglas “Worst Case”, die genauso schwer mit irgendetwas Wichtigem beschäftigt sind, aber womit? Und in ihrer autoritären Präsenz, die sich mir vollkommen verschließt, rätselhaft bleibt, faszinieren sie mich.

Das raffinierte Bühnenbild besticht durch seine dezente, aber stimmungsvolle Ausleuchtung, den geschickt platzierten Fahrzeugen der hauseigenen Marke und einer “Skulptur” in Form der Zahl 125. 125 Jahre, das lernen wir gleich zu Beginn der Rede, ist es her, dass das Automobil erfunden wurde. Das soll gefeiert werden! Alles zielt natürlich darauf ab, ganz besonders sich selbst zu feiern, aber nicht anders hat man das erwartet.

Nach einer gefühlten Ewigkeit dann der dramatische Einbruch: Jetzt kommen die willigen Redner zu Wort, denn als Aktienbesitzer hat man das Recht, seine wie auch immer geartete Meinung kund zu tun. Ein Ruck geht durchs Publikum. Plötzlich werden die Leute vorne am Podium beklatscht oder ausgebuht, es gibt Zwischenrufe und sogar Leute, die (wütend?) den Saal verlassen und man ist sprachlos angesichts solch einer vorbildlichen Zuschauerpartizipation. Lächelnd erinnere ich mich an ein Interview, in welchem einer der Organisatoren auf die Frage, ob so eine Aktionärsversammlung nicht furchtbar langweilig sei, bemerkte: “Langeweile ist das Ziel solcher Veranstaltungen.” Zu Unrecht! Währenddessen machen Nebensitzer sich brav Notizen und erinnern dabei an fleißige Studenten im Hörsaal (was von der räumlichen Situation verstärkt wird), während auf der Bühne das Wirtschaftsvokabular rauf und runter deklariert wird. Da stellt sich natürlich die Frage, wie hoch der Anteil derer im Raum ist, die all das wirklich verstehen. Ab und an fallen zwar völlig unmissverständliche Sätze wie “Jeder Trend ist real!” und “Der Stern leuchtet!”, meistens jedoch neigt man als Nicht-BWL-Student zum abzuschweifen. Es steht allerdings jedem Zuschauer jederzeit frei, den Saal zu verlassen, worüber man sich wiederum deswegen nur mäßig freuen kann, weil die Stimme des Redners per Lautsprecher übertragen wird und zwar allüberall; selbst auf der Toilette finden die Beschwörungsformeln ihren Weg in das Ohr des Hörers. Ist das schon Manipulation? Oder Information?

Der Titel von Tilmans oben beschriebener Arbeit lautet übrigens “Wind of Change”, denn unter den sich meditativ drehenden Stern wird der gleichnamige Hit der Scorpions gelegt, intoniert von einem panflötenden Südamerikaner zu Fuß des Gebäudes. Wie war das noch gleich mit der Kapitalismuskritik?

Am Ende des Redemarathons wird der Zuhörer entlassen mit den pathetischen Worten: “Niemals stillstehen! Immer weitermachen! Immer aufbrechen zu neuen Ufern!” Das klingt nach Fortschritt, progress im anglizistischen Sprachvokabular der Firma, nach Zukunftsglaube und Optimismus. Es scheint ein gutes Jahr gewesen zu sein. Wie echt die Euphorie ist, lässt sich nur erahnen. Die angereisten Besucher scheinen sich nicht daran zu stören. Man wurde schon frustrierter aus einer Theatervorstellung entlassen.