Der Geist ist schwach, das Fleisch sowieso

Vergangenen Freitag passierte etwas Sonderbares: Beim Aufschlagen des Feuilletons der Süddeutschen Zeitung wäre mir vor Schreck beinahe die Kaffeetasse aus der Hand gefallen (die mit dem goldenen Stier, leider Teil des Redaktionsinventars, ach, wie ich sie vermissen werde!). Unter der kalauerlichen, dennoch herrlichen Überschrift „Bei Dänen peept’s wohl“ berichtete Johan Schloemann von einer neuen Talkshow in Dänemarks öffentlich-rechtlichem Programm. In “Blachman” sitzen zwei Männer auf einem Sofa, denen Frauen vorgeführt werden, zunächst im Bademantel, dann nackt. Minutenlang stehen die Frauen da, drehen und wenden sich, ähnlich den Models beim Defilee, nur eben ohne Kleidung. Mit einem Blick zwischen Kennerschaft und Geilheit geben der Moderator Thomas Blachman und sein Gast dann ihr Urteil ab. Mal bekommt das weibliche Geschlechtsorgan den befremdlichen Namen “Mysterium” zugewiesen (sic!), mal gesteht der Moderator, er habe  nie gewusst, was er mit großen Brüsten anfangen solle. Dem Autor Schloemann fällt dazu der treffende Vergleich zweier Besucher einer „Gemälde- oder Skulpturensammlung“ ein; vielleicht so wie die beiden älteren Herren in Thomas Bernhards „Alte Meister“? All das zur besten Sendezeit und finanziert von öffentlichen Geldern. Chapeau!

“Blachman” ist die performativ umgesetzte Situation des so seltsamen Begriffs Fleischmarkt. Ich glaube, da sind die roten Holzpferdchen mit den europäischen Nachbarn durchgegangen (oder gibt es die nur in Schweden?). Wie kann es sein, dass ausgerechnet ein skandinavisches, vermeintlich sexuell liberalisiertes Land wie Dänemark so völlig unironisch eine solche Unfassbarkeit versendet (Ironie ist, so entnehme ich dem SZ-Artikel, ausgeschlossen)? Dass man den gierigen, die Frau zum Objekt degradierenden Blick auch anders, nämlich skurril und entlarvend darstellen kann, beweist Ulrich Seidl. In „Der Busenfreund“ bietet der österreichische Regisseur seinem ehemaligen Mathelehrer René Rupnik eine Bühne für dessen sexuelle Phantasien Senta Berger betreffend. Vornehmlich geht es dabei um deren Brüste, die René für besonders gelungen hält, aber auch um ihre Hüften, ihren Hintern oder ihr Gesicht – das René nicht ganz so gerne mag , aber man könnte ihr ja etwas überziehen. Zwischendurch plädiert er für den Begriff „Weib“, der doch, von der lautmalerischen Seite betrachtet, so viel passender sei, als das sterile „Frau“ und schwärmt von den drallen Schenkeln seiner Tante mütterlicherseits. Bemerkenswert ist, dass der Protagonist so bereitwillig Auskunft erteilt, trotz seiner Stelle im öffentlichen Dienst, von der er hierzulande gewiss umgehend suspendiert würde, denn warum sonst stehen im deutschen Privatfernsehen die Erzähler pikanter Geschichten immer mit dem Rücken zur Kamera? Renés Weltsicht ist natürlich aus feministischer Perspektive hoch problematisch, aber gerade weil man diesen Sonderling, der obendrein seine senile Mutter ständig davon abhalten muss, den Gasherd aufzudrehen, nicht ernst nehmen kann, verkehrt sich sein lüsternes Gequatsche ins Gegenteil: Man bekommt Mitleid. Denn, come on, es ist klar, dass sich in die Messie-Wohnung der Kleinfamilie Rupnik keine Frau verirren wird. Und weil der Regisseur Ulrich Seidl ist, braucht es nicht einmal eine kommentierende Funktion. Ein Mathelehrer, der die Sinuskurve mit Brüsten vergleicht, ist Affirmation genug. 

Bei „Blachman“ liegen die Dinge ein wenig anders. Schon der Stempel öffentlich-rechtliches Fernsehen verleiht dem Ganzen gruselige Seriosität. Hinzu kommt, dass der Gastgeber und sein Gesprächspartner eben keine bierbäuchigen Waldschrate sind oder nur zu Gast in der Realität wie der “Busenfreund”, sondern kultivierte, wenn nicht gar intellektuelle Persönlichkeiten. Den Rest an Autorität besorgt die reduzierte Studioästhetik, der dunkle, leere Raum, der Scheinwerfer, der ein Spotlight ist, die Ledercouch: eine Mischung aus retro und minimal wie hierzulande „Roche & Böhmermann.“ Trash-TV sieht anders aus. Soweit ich dem Artikel entnehme, parliert man nicht auf Herren-Witz-Niveau, stattdessen kulturell-untermauerte Assoziationen und Gedankengänge von philosophischem Ausmaß. O-Ton Moderator Thomas Blachman: „Den Frauenkörper dürstet es nach Worten, nach den Worten eines Mannes.“

Seit Freitag warte ich vergeblich auf Reaktionen. Mag sein, dass in irgendeiner Schublade wütende Leserbriefe gesammelt werden (ich hoffe!) oder dass es bereits eine Twittergruppe mit dem dänischen Wort für Aufschrei gibt (ich twittere nicht) – außer einem Artikel auf Focus Online ist nichts in dieser Richtung zu mir durchgedrungen. Passenderweise fiel die Entdeckung von „Blachman“ mit etwas ähnlich Groteskem zusammen, diesmal in der Mediathek der ARD.  Im Unterschied zum Großteil des bundesdeutschen Fernsehangebots unterstelle ich der ARD eine gewisse Ernsthaftigkeit, schließlich rechtfertigt die GEZ ihre Überfälle mit einem Bildungsauftrag. Und dann das: „Vernetzt verkuppelt verliebt“, zu sehen 14-tägig im Spartenkanal Eins Festival.  In der “Datingshow für das digitale Zeitalter” lernt ein Single drei KandidatInnen kennen, die seine oder ihre Freunde ausgesucht haben. Heute ist das Marvin, 20, aus Sinsheim, der sich im Fitnessstudio die „Energie für lange Partynächte“ holt und auch beim Shoppen so richtig Gas gibt. Marvin hat aber auch eine weiche Seite: Während eines Spaziergangs im Abendlicht schweift sein Blick sehr Caspar David Friedrich-mäßig in die Ferne und er gesteht, dass er natürlich an die große Liebe glaube, sonst mache das alles ja keinen Sinn. Wo sind die Herzblätter für diesen sportlich-romantischen Supertyp? Eine Vorauswahl treffen die drei Menschen, die Single Marvin vorgeblich am Besten kennen, sein Zwillingsbruder Martin, sein bester Freund Udo und die beste Freundin Evelyn. Das Medium der Stunde ist wieder einmal Facebook.

Jeder kennt den Anblick eines kichernden Haufens, der sich um einen Computerbildschirm schart und, ähnlich einer Ratingagentur, Gesichter, Körper, ganze Menschen gnadenlos herauf- und herabstuft. Mit dem Unterschied, dass normalerweise keiner dabei zusieht. Lediglich der Umstand, dass es bei “Vernetzt verkuppelt verliebt” nicht die realen (und unbekleideten!) Frauen sind, die wie auf dem Fleischmarkt bewertet werden, sondern deren digitale Avatare, unterscheidet die Situation von „Blachman.“ Dabei kommen die niederträchtigsten Kommentare ausgerechnet von Marvins bester Freundin. Ihre Machtposition, die sie vor dem Laptopscreen fraglos hat, demonstriert Evelyn mit Aussagen wie „die ist ja auch nicht gerade schlank“ oder, den Kleidungsgeschmack der Kandidatin betreffend, „in die müsste man ein Jahr Arbeit reinstecken.“

„Vernetzt verkuppelt verliebt“ folgt den Gesetzen der Castingshows, denen per se eine Unerbittlichkeit anhaftet, sei es Heidis dämliches Foto oder Bohlens Fettweg-Kommentarfunktion. Es liegt vermutlich in der Natur des Menschen, sich von anderen abzugrenzen und sich im Vergleich seiner eigenen Vorzüge zu versichern. Wie es auch menschlich ist, sich am Anblick solcher Wettbewerbssituationen zu erfreuen, je niveauloser, desto besser; man nennt das guilty pleasure. Bedenklich nur, dass Formate dieser Art das Terrain Privatfernsehen verlassen haben und sich jetzt aufmachen, unter dem Deckmantel des Seriösen die Öffentlich-Rechtlichen zu erobern. In Dänemark. In Deutschland. Manchmal intellektuell. Manchmal unbekleidet.