Der Bus, die Farben, der Fernseher, die Stadt

Stadt als Dschungel. Das ist so eine abgegriffene Floskel, aber manchmal passt das gut. Hier, im Herzen von Kreuzberg (auch so eine komische Stilfigur), zwischen Görlitzer Bahnhof und Kottbusser Tor, da, wo die Adalbertstraße noch nicht die Tourimeile ist, in die sie sich ein paar Meter weiter verwandeln wird, gibt es einen neuen Geheimplatz, der natürlich schon jetzt kein Geheimnis mehr ist. Wenn man  zwischen Gestrüpp und Geäst sitzt, das im Dunkeln sehr exotisch anmutet, fühlt man sich weit weg fühlt von der großen Stadt, mit den Teelichtern auf den wackeligen Tischchen vor sich und den fremdartigen Getränken darauf. Die gibt es ein paar Meter weiter zu kaufen und das ist das Wunderliche daran: In der Mitte dieses wuchernden, widerspenstigen Gartens steht ein Bus. Ähnlich dem Konzept der Spätis, die in Berlin, meines Wissens im Unterschied zu jeder anderen deutschen Großstadt, wie Pilze aus dem Boden schießen, gibt es hier auch nach 20 Uhr flüssige und feste Nahrung und Kleinigkeiten zu kaufen. Aber was für welche! Französische Limonade, Cidre aus der Hauptstadt, gekühlte Chardonnay Fläschchen im 200 ml Format, saure Rhabarberschorle (die also endlich endlich den Weg von der Fusion in die Hauptstadt gefunden hat); frische Eier von glücklichen Hühnern, Bonne Maman Aufstrich mit Caramelgeschmack, Ovomaltine und viele bunte Süßigkeiten.  Allein die Art und Weise, wie die Besitzer (kleine Heinzelmännchen vielleicht?) die bunten Sachen angeordnet und hergerichtet haben, verrät viel über das Herzblut, das in dieses Projekt geflossen ist. All das zu Spätipreisen und zur Rotweinflasche kriegt man ein Glas dazu.  Das Heinzelmännchen ist dann doch ein junger Mann hinter einer antiken Holztheke und er erzählt, dass Kjosk Arabisch ist und dass man bald hier auch frühstücken und selbst gebackenen Kuchen essen kann. Kaffee gibt es schon. Wer sich traut, die schmalen und bedenklich schiefen Stufen neben der Theke hinaufzusteigen, der findet sich wieder auf einer geschlossenen Plattform mit Sitzgruppen, wo gefeiert werden kann, wenn es kälter wird. Heute ist die Nach zu mild, um sie nicht draußen zu verbringen und auf dem Weg zu dem schönsten Tischchen muss man aufpassen, wohin man tritt, denn widerspenstig, wie der Garten ist, gibt es immer wieder Kuhlen und Unebenheiten und man stolpert leicht.

Man sitzt dann am schönsten Tischchen und kann sich gut unterhalten, weil die Musik nur ganz leise vor sich hin minimiert, selbst zu leise, um Hintergrund zu sein. So etwas gibt es nur hier, denkt man sich. Dass es so etwas geben kann, ist nicht nur dem (obwohl ständig von allen beklagten) immer noch reichlich vorhandenem space zu verdanken, sondern hauptsächlich dem Wesen der Stadt, falls es so etwas gibt. Man kann auch sagen: Ihrem Lebensgefühl. Dazu kommt noch die relativ großzügige Auslegung von Regeln zur Nutzung des öffentlichen Raums und der relative Konsens, dass dieser Raum kreativer genutzt werden muss als Carlofts hineinzusetzen.

Weil es gerade so schön wuchert im Berlindschungel und man jetzt doch Lust bekommt auf Musik, die ein bisschen lauter ist, begibt man sich zum zweiten neuen Lieblingsplatz, nur ein paar unsanierte Häuserfronten weiter. Über dem Eingang hängt noch das Schild, das auf die ursprüngliche Funktion des kleinen Ladenraums verweist: Farbfernseher, 98 DM. Wer vor Mitternacht kommt, muss gar nicht oder fast gar nicht warten und kann den kleinen Raum noch ungestört von der Balustrade aus beobachten. Kerzen brennen neben dem Plattenteller, (von dem sehr anständige Musik erklingt) und über dem Türrahmen und man hat oft Angst um seinen neuen Lieblingsplatz. Aber genauso entspannt wie die Musik sind auch die anderen. Später wird getanzt und geflirtet, drinnen bei Kerzenschein oder im Innenhof. So schön kann Zweckentfremdung sein.

Die großen und kleinen Zweckentfremdungen sind es nämlich, die die Dynamik einer Stadt ausmachen. Dass es eine zutiefst deutsche Befindlichkeit ist, diese Dynamik möglichst klein zu halten, wird im Feuilleton der ZEIT unter der Überschrift „Metropole als Feind“ beklagt. Als Aufhänger dient die bevorstehende Bürgermeisterwahl in Berlin und der ehrgeizige Plan der Grünen, diese für sich zu entscheiden. Auf dem Wahlprogramm stehen: Tempolimit 30, Verkehrsberuhigung, Mileuschutz. „Das krautige Durcheinander, das in jeder Großstadt von selbst entsteht, das Kioske wachsen und sterben, deutsche Arbeiterkieze in orientalische Basare verwandeln, bürgerliche Viertel versteppen lässt (…) – es ist offenbar zu viel für die schwachen deutschen Nerven.“ Davon kann man als junger Mensch in Berlin ein Lied singen. Gereizte Nachbarn, kauzige Wutbürger, die dafür sorgen, dass Brücken geräumt und Bars geschlossen werden und übermütige Anwohner, die mit Kopfsalat auf Ausgehfreudige werfen (so geschehen in der Weserstraße) machen einem das Leben schwer.

Die nächste Nacht im Garten des Kjosk ist wieder zu mild, um nach drinnen zu gehen, aber schon bevor sie richtig beginnt, wird man höflich gebeten zu gehen. Es sei nun mal nicht so einfach mit den Nachbarn. Passt ganz gut zu den Richtlinien der Grünen, die Stadtmenschen schützen wollen, vor Lärm, vor zuviel Umtriebigkeit, zu viel Überfremdung, vor zu lauten Parties und vor zu hellen Lichtern – kurzum vor der Stadt selbst. Wer da im Recht ist, die Anwohner, die Grünen und deren Wähler oder die anderen, die ihre Stadt nicht als zu groß geratenes Dorf verstehen, danach braucht man nicht zu fragen, wenn man nicht die Motivation hat, die nächsten zwei Stunden eine Diskussion über „Wem gehört die Stadt?“ und Gentrifizierung und das Politische im Privaten zu führen. Oder aber man liest noch mal ein Stück weiter oben nach, was die ZEIT da zu sagen hat. Dass eine Stadt doch wuchern darf, wuchern muss wie der Garten des Kjosk. Dass es nicht angehen kann, dass sich der „urbane Dschungel überall auf der Welt zeigen darf, außer in Deutschland“ ganz besonders nicht hier in Berlin, wenn die Stadt ihren Ruf als sexy Metropole nicht verlieren will. Dass ich als Stadtmensch gerne selbst entscheiden will, ob ich in meinem Lebensraum unter Artenschutz gestellt werde.

Hier stolpert man eben, in Berlin wie im Garten des Kreuzberger Geheimplatzes, weil es dunkel ist und man vielleicht schon zu viel vom viel zu leckeren Cidre getrunken hat oder einfach nur, weil es rauf und runter geht und Leben in der Stadt eben nicht heißen kann: No suprises, please. Urbanes Leben ist Dschungel ist Abenteuer. Wer da Lust drauf hat, dem gehört die Stadt, wer nicht, kann ja nach Stuttgart ziehen. Und für die Zukunft, für Berlin und für mich selbst hoffe ich, dass wenigstens dieser Kjosk nicht stirbt und die Kerzen im Farbfernseher noch ein Weilchen brennen.