Das Reich der Zeichen oder: Ich war in Paris und alles, was ich mitbrachte, waren alle Louis Vuitton-Taschen, die sie mir verkauft haben.

Viel viel älter als das Klischee des Trolley-ziehenden Easyjet-Engländers ist das Klischee des Paris-verliebten Japaners. In dieser Stadt, die wirkt wie die Filmkulisse einer kitschigen, aber sehr stilvollen Romanze, gerät ja schon die gemeine Mitteleuropäerin ins Schwärmen (denn natürlich fühlt sich jede Frau zwischen fünfzehn und fünfundfünfzig hier wie Amélie Poulain!) und deckt sich schamlos mit Eiffelturm-Schlüsselanhängern ein. Einzig für japanische Touristen scheinen die indiskutablen, da hässlichen “J’adore Paris” T-Shirts gemacht. Sie sind es auch, die den Begriff des Paris-Syndroms prägten: Ein depressionsartiger Zustand, der jene überkommt, die mit zu hohen Erwartungen anreisen und schmerzhaft feststellen, dass Paris eine Stadt ist wie jede andere. Kein savoir vivre, kein rosarotes La vie en rose, dafür genauso viel Hundekacke wie zuhause.

Was glauben sie hier zu finden, die giggelnden Teenagermädchen und die ernsthaften Männer mit Kamera um den Hals? Louvre, Hôtel de ville, Baguettes und Brioches, l’amour éternel? No way. Der wahre Grund sind die Galeries Lafayette. Nirgendwo sonst bietet sich einem ein derart plastisches Bild von asiatischer Kaufkraft und japanischer Hysterie. Hat man es von der Métro-Station dorthin geschafft ohne totgefahren zu werden (denn die Zebrastreifen haben lediglich symbolischen Charakter) und sich durch einen der gefühlt zweiundfünfzig Eingänge gekämpft, steht man in einem kathedralenartigen Raum, ach was, einem Nicht-Ort von unvorstellbaren Dimensionen. Anstelle von Wandmalereien oder Heiligenskulpturen herrscht in diesem profanen Tempel Leere. Es gibt nämlich keine Decke, nur Rolltreppe um Rolltreppe um Rolltreppe, in Richtung Cash-Himmel. Eine Geräuschkulisse wie im Fußballstadion, gleißendes Scheinwerferlicht, blinkender Marmorfußboden. Man taucht ein in den Strom der Zahlungswilligen, der Käufer, der Sinnsucher, wird von Zeit zu Zeit an die funkelnden Ufer gespült, an gläserne Vitrinen und spiegelnde Auslagen.

Ein besonders schlauer Fuchs von Raumplaner hat beschlossen, dass jeder Designer seinen eigenen Store-im-Store bekommt; je größer der Name, desto mehr Verkaufsfläche und desto hermetischer von den Passanten abgetrennt. Selbst die Bereiche im Mittelteil flankieren seriös wirkende Männer in schwarzen Anzügen, beidseitig, und wehe, der Kunde widersetzt sich diesem System. Es ist nämlich nicht möglich, einfach stehen zu bleiben, um eine der durch Stahlseile gesicherten Handtaschen zu begutachten, nein, man muss schon der streng reglementierten Route folgen. “Pardon Mademoiselle, ce n’est pas la sortie.” (Ungeheuerlich, dass sie sich immer noch trauen, eine Frau mit “Mademoiselle” anzusprechen, wo das doch kürzlich aus guten Gründen verboten wurde – wer kann sich schon anmaßen, aufgrund des ersten Eindrucks eine verheiratete von einer unverheirateten Dame zu unterscheiden? – aber das ist schon wieder ein anderes Sujet). Den Schlangen nach zu urteilen, könnte das auch ein hipper Abrissclub sein, so akkurat weisen die roten Samtkordeln die drängelnden Besucher zurück, so exklusiv geben sich die Artikel dahinter. Ach ja, zu kaufen gibt es im Erdgeschoss des Lafayette hauptsächlich Designerhandtaschen, wobei der Mittelgang der “Ramschware” vorbehalten ist (da bewegt man sich in der Preisklasse bis etwa 400 €). Die Highclass-Brands befinden sich in den abgetrennten Ladenzeilen, ausgelegt mit crèmefarbenem Teppichboden, mit frischen Blumenbouquets und offenen Kaminen, gediegen wie ein Schweizer Châtelet. Da will man sich gleich in einen der pompösen Samtsessel fallen lassen, eine Tasse Tee trinken und die Kreditkarte zücken.

Ich übertreibe keineswegs, wenn ich sage, dass es im dritten Stock von der Decke tropfte. Das mag an der Masse der transpirierenden Kunden liegen oder an der nachlässigen Klimatisierung. Ich übertreibe ebenfalls nicht, wenn ich sage, dass ich zum ersten Mal eine längere Schlange vor der Herren- als vor der Damentoilette sah. Noch länger ist die Schlange vor Louis Vuitton. Fast ausschließlich asiatische Paare mittleren Alters, vereinzelt junge Männer mit Hornbrillen, Kinder sieht man nicht. Mehr als die Hälfte tippt auf ihren Smartphones herum. Gesprochen wird kaum. An den konzentrierten, schweißglänzenden Gesichtern ist abzulesen, dass sie sich nicht zum gemütlichen Samstagnachmittagbummel zusammengefunden haben. Sie meinen es ernst. Sie haben den weiten Weg nach Mitteleuropa auf sich genommen, um sich hier mit Artikeln ihres Lieblingslabels einzudecken. Fuck Paris, scheinen sie zu denken, fuck Eiffelturm, fuck Louvre, fuck Sacre-Cœur, wir werden diese Stadt erst dann verlassen, wenn unsere Koffer randvoll gefüllt sind mit Chanel, YSL, Lacroix, Prada, Dior, Missoni, Balenciaga, Gucci und Louis Vuitton, vor allem Louis Vuitton.

Dank meines bescheidenen wirtschaftlichen Know-hows weiß ich, dass sich Angebot und Nachfrage im Kapitalismus zwar weitgehend von selbst regeln, dass Exklusivität aber stets den Warenfetisch steigert (weswegen ich mir in Paris den absurd teuren Chanel-Nagellack aus der limitierten Sommerkollektion zulegte – weil die Farbe “Holiday” in Deutschland ausverkauft ist und auf Ebay der dreifache Preis zu erwarten war; und den Nagellack dann doch behielt, einzig wegen des elitären Gefühls). Folglich ist die Anzahl der Louis Vuitton-Artikel pro Person begrenzt. Was dem gemeinen Durschnittsverdiener (oder dem Studenten, mon dieu) egal sein kann, wird für den japanischen Konsumtouristen zum echten Problem. Nur so kann man sich erklären, warum junge Frauen auf offener Straße von japanischen Reisegruppen gefragt werden, ob sie nicht gegen Bezahlung bereit seien, ein bisschen bei Louis Vuitton shoppen zu gehen. Solche Blüten treibt die soziale Ungleichheit.

Paradoxerweise sehen die Wartenden vor dem Flagshipstore im Lafayette weder nach Geld, noch nach Geschmack aus. Ausgetretene Sandalen statt Louboutins, nachlässig in die Hose gesteckte und ungebügelte (!) Hemden statt Maßanzug; die Frauen tragen kaum Make Up und keinen Schmuck. “Geschmack kann man nicht kaufen”, denke ich, Prestige dagegen schon. Ich stelle mir vor, dass jeder Japaner mindestens einen Koffer und einen Weekender von Louis Vuitton besitzt, dass selbst schrumplige, alte Damen mit dem Lockit- Shopper über den Wochenmarkt schlendern, dass japanische Grundschüler ihr Federmäppchen passend zum Monogramm-Backpack aussuchen – dass es quasi Bürgerpflicht ist, das LV-Emblem durchs Land zu tragen.

Und was wäre dieses Emblem anderes als der leere Signifikant bei Roland Barthes? In “Das Reich der Zeichen” belegt er anhand seiner Reisen nach Japan die Austauschbarkeit von Zeichensystemen. Jede Handlung, jede Höflichkeitsgeste, ja sogar die Art Essen zuzubereiten versteht Barthes als Zeichen, die auf nichts außer sich selbst verweisen. Wo der westliche Mensch nach Sinn sucht, nach dem Signifikat, auf das der Signifikant verweist, da ist nichts, Leere, absolute Selbstreferentialität. Unser Sinn, sagt der französische Philosoph, kollabiert vor der Sinnfreiheit. Unsere Angewohnheit Bedeutung zu generieren, wird in der Konfrontation mit der fremden japanischen Geste ad absurdum geführt.

Mit Barthes Theorie überrascht einen der Konsumrausch der japanischen Paris-Touristen nicht mehr. Der Schein, die Geste ist das leere Zentrum, das vom japanischen Denken umkreist wird. Dass man in einer Kultur, der das Zeichen alles ist und zugleich nichts, so viel Wert auf das Monogramm eines Modeschöpfers legt, ist klar. “Das Zeichen ist ein Riss, der sich stets nur auf dem Gesicht eines anderen Zeichens öffnet.” Ironischerweise verweist das Emblem des Designerprodukts – gleich ob es sich um das LV von Louis Vuitton oder das Gucci-G oder die verschlungenen Cs von Chanel handelt – zwar auf den realen Geldwert, auf den Tauschprozess von Ware gegen Geld; doch ist dieser Wert ein fiktiver, ein willkürlich festgesetzter Betrag, der in der Regel den tatsächlichen Wert (des Materials, der Produktionskosten, der Arbeitskraft) um ein vielfaches übersteigt. Eine Tasche, nicht mehr wert als jede andere aus demselben Material Gefertigte, die aber wegen des Logos zwanzig mal so teuer ist, ist ja wohl der Inbegriff eines entleerten Zeichensystems. Der Käufer einer solchen Tasche erkennt die Abwesenheit des Sinns, die Bedeutungsleere des völlig referenzlosen Emblems an.

Eine Analogie zum emsigen Erwerb des Louis Vuitton-Sortiments ist der Haiku. “Es gibt einen Augenblick, da die Sprache endet (ein Augenblick, der mit größten Übungsanstrengungen erreicht wird), und dieser Schnitt ohne Echo liegt (…) der knappen und leeren Form des Haiku zugrunde.” Während der westliche Mensch nach Sinn sucht, er anfängt, den Dreizeiler mit literaturwissenschaftlichem Werkzeug auseinanderzunehmen, da akzeptiert der Japaner dessen Abwesenheit. Wo der Mitteleuropäer kopfschüttelnd das Ausharren der japanischen Touristen vor der Sicherheitskontrolle eines Luxusgeschäfts notiert, da hat der Wartende die Irrationalität des Diktats “I shop therefore I am” akzeptiert. Ein Haiku ist nicht mehr als eine siebzehn-silbige Momentaufnahme, eine Beobachtung, ein Augenblick, im Moment der Niederschrift bereits vergangen. “Ein panischer Schwebezustand der Sprache, die Leerstelle, die in uns die Herrschaft des Codes auslöscht, der Bruch in unserem inneren Monolog, der für unsere Person konstitutiv ist. Und wenn dieser sprachfreie Zustand eine Befreiung ist, so weil das Wuchern des sekundären Denkens (…) dem buddhistischen Denken als Blockierung erscheint: In Wirklichkeit ist es die Aufhebung des sekundären Denkens, die den unendlichen Zirkel der Sprache bricht.” Eine Tasche ist nicht mehr als das Designerlogo. Das Subjekt, das sie trägt, ist nicht mehr als die Zahlungsfähigkeit seiner Kreditkarte. Der japanische Konsumtourist hat das verstanden. Kauf als Befreiung, als Aufhebung des Ich, als Auslöschung des kapitalistischen Referenzsystems. In diesem Sinn:

Verzweifeltes Kreditkartenzücken / Diktatur der Zeichen / Samstag im Lafayette.