Das leere Blatt

Frage: Wenn du drei Personen deiner Wahl, tot oder lebendig, zum Abendessen einladen dürftest, wer wäre das dann?                    Antwort: Mhmh, muss ich mir mal noch durch den Kopf gehen lassen, ja, gar nicht so einfach, ich brauch noch ein bisschen Zeit… Aber ganz bestimmt wäre Rafael Horzon dabei!

Das ist nämlich so: Wie so oft wurde mir die Information über dessen Existenz erst einmal über mein Lieblingsmedium überbracht (welches wird hier nicht verraten, ich mache ja keine Schleichwerbung). Der Artikel, in dem der Autor gleichzeitig versuchte, erstens etwas Kluges über Rafael Horzons so eben erschienenes Buch zu erzählen (gelungen!) und, zweitens, etwas über den Autor selbst herauszufinden (gescheitert!), machte mich so neugierig, dass ich mir Das Weisse Buch umgehend kaufte. In der Uni habe ich nämlich neben den ganzen vielen anderen Dingen gelernt, dass Scheitern manchmal produktiv sein kann und das trifft die Sache ganz gut: Gerade weil es dem Journalisten meines Lieblingsmediums nicht gelang, ein aussagekräftiges Porträt zu liefern, sondern der Leser am Ende des Textes mindestens genauso wenig verstanden hatte, wer oder was dieser Horzon eigentlich ist (Unternehmer? Schriftsteller? Mitglied der kreativen Branche?), wollte dieser Leser, ich zumindest, jetzt erst recht wissen, was es damit auf sich hat; und außerdem ist das Leben des Rafael Horzon oder zumindest das, was er uns glauben lassen will, eine exemplarische Aneinanderreihung von ungünstigen Begebenheiten, man könnte auch sagen: Schicksalsschlägen – Scheitern in seiner schönsten Form.

Schön ist schon das Ding an sich: Makellos weiß spottet Das Weisse Buch der Idee eines Stücks coffeetable-Literaur. Die viel beschworene Formel der Reduktion – weg mit dem Überfluss! Zurück zu den Wurzeln! – die besonders bei Design-Interessierten auf offene Ohren stößt, wurde hier konsequent umgesetzt. Rafael Horzon mag es schlicht. Auch mit der Wahl seines Domizils hat er scheinbar alles richtig gemacht, soll heißen, sich an die ungeschriebenen Gesetze der kreativen Branche gehalten, die da heißen: Mitte ist Titte (oder so ähnlich) und sich in der Torstraße niedergelassen. Zuvor fristetet er ein entbehrliches Studentendasein in Paris, bei dem ihm  Derrida höchstpersönlich vor Augen führt, dass die Sonne kalt ist – Le soleil est froid! – und versucht nach kurzer Station in München, wo er endlich seine lateinischen Small Talk Fertigkeiten unter Beweis stellen kann, sein Glück in Berlin. Besser kann man mit einem einzigen Satz die Stimmung dort (damals wie heute!) nicht beschreiben: “Dann kamen junge Menschen aus dem Westen, besetzten die leergebliebenen Läden und Wohnungen und verkauften den anderen jungen Menschen, die nach Berlin kamen, Getränke.” Weil große Geister von der Universität enttäuscht werden müssen, markiert die Zeit in Berlin den Beginn des Versuchs mit einer wie auch immer gearteten Idee, Hauptsache, sie ist innovativ, Geld zu verdienen. Am Anfang steht das Kompendium des Wissens, eine Art Weltgedächtnis, allerdings in analoger Form. Trotz unzähliger Bettelbriefe an Institutionen, von denen der gemeine deutsche Bürger noch nie gehört hat (Forschungsstelle für ortsauflösende Messtechnik?), kommt es nicht zur Umsetzung des Plans. Auch die folgenden Projekte – Wissenschatsakademie, Partnerschafts-Trennungs-Agentur, Fachgeschäft für Apfelkuchenhandel – sind zum Scheitern verurteilt. Es sind der Ideen zu viele, um sie hier lückenlos aufzuzählen; ein heimlicher Favorit ist dabei auf jeden Fall die Galerie Berlintokyo, ausnahmslos bestückt mit appropriation art, das heißt im Asialaden erworbenen Winkekatzen, Essstäbchen und Sake-Kannen, sowieso Reisefotos aus Hongkong, aber “den Unterschied merkt kein Mensch.” Horzons Plan “die Idee Kunst mithilfe fiktiver japanischer Künstler als obsolet blosszustellen” geht auf, nicht zuletzt, weil das Jeansteam öfter mal einen Auftritt dort hat und weil das Internet “glücklicherweise” noch nicht erfunden war. Kurz vor der Einladung zur documenta X wird das Projekt abgebrochen. Es wäre gelogen zu sagen, dass meine Zweifel ob der Wahrhaftigkeit dieser Episode volständig beseitigt sind, obwohl das Gerücht umgeht, diese Galerie habe wirklich existiert. Warum auch nicht? Schließlich sind wir in Berlin!

Manchmal treibt es Horzon zu bunt: Die stets wiederkehrende Personifikation seines Schicksals in Gestalt der/ des Wahrsagers/ in Signora Sarasate, dessen/ deren biologisches Geschlecht munter wechselt, geht mir, salopp gesagt, auf die Nerven. Dafür entschädigt neben der Tatsache, dass seine so wahnhaften, so grotesken Anekdoten mich mehr als einmal in der Öffentlichkeit laut auflachen ließen, Horzons genialer Umgang mit Sprache. Über weite Strecken hinweg ist sein Stil schnörkellos, eine Mischung von Alltagssprache, Mitte-Slang und der Art von Philosophie, die sich nach dem vierten Bier einstellt – aber manchmal bricht sich seine sorgfältigt versteckte Prätention Bahn und in einem Anfall von sprachfigürlichem Größenwahn wirft er Sätze wie “Während ich eines Abends allein vor der Leuchtwand sass und in das Licht der Aufklärung schaute, erfand ich in nur einen Sekunde das Prinzip der Eintontechnik, nach der ich noch in der selben Nacht die RDD Sinfonie 01 komponierte. Sie bestand aus einem einzigen Ton von einhundert Hertz und dauerte einhundert Stunden.” aufs Papier. Oft sind Frauen der Auslöser dafür, so etwa Sophie, die Tochter des Universitätsrektors: “Wir fuhren zum Eiscafé Venezia, assen zwei grosse Banana Split mit sehr viel Sahne und gingen dann zu mir nach Hause. Ich liebte sie an diesem Abend siebenmal. Ein Wirbelsturm urtümlicher Kräfte trug mich ins Reich der Wonne.”

Fotos machen kann Rafael Horzon übrigens auch nicht. Bestimmt übertrifft deren Inhalt die Summe ihrer Einzelteile, aber wie, darüber mag man keine Prognosen anstellen. Dafür helden die Bildunterschriften beim Wiedererkennen der Textstelle!

Weil das keine Rezension über Das Weisse Buch ist und auch kein Autorenporträt, kann ich mit Stolz sagen, nicht an diesem oder irgedneinem anderen Vorsatz gescheitert zu sein. Meine Frage, ob es Rafael Horzon überhaupt gibt und wenn ja, wie viele Existenzen er führt als Nachtclubbetreiber, Paketfahrer, Labelbesitzer, Ideenproduzent, Vordenker, Ästhet, Raumpurist etc. etc. bleibt also leider unbeantwortet. Erst vor Kurzem haben aber gleich zwei Umstände zum meinem gefestigten Glauben an Rafael Horzons Vorhandensein in der Welt geführt: Bei einem nächtlichen Spaziergang durch die Torstraße blieb ich “wie vom Blitz getroffen” vor einem recht unscheinbaren Schaufenster stehen: Diese Regale hatte ich doch schon mal gesehen! Entsprachen sie nicht jenen perfekten Maßen, die das menschliche Dasein Horzon zufolge ausfüllten? Und die Stapel Weisser Bücher…? Und tatsächlich verkündete das Schild über dem Schaufenster: Moebel Horzon. Für einen Moment glaubte ich, alles verstanden zu haben. Meine Begleitung an diesem Abend wusste daraufhin zu berichten, halb verwundert, halb amüsiert über die Erschütterung, die die Entdeckung dieses Ortes in mir ausgelöst hatte, dass es ihn wirklich gebe, das könne sie mit Sicherheit sagen, weil sie ihn nämlich getroffen habe. Auf einer Vernissage. In Berlin-Mitte.

“Die Luft ist dünn. Sie wird immer dünner. Dann bin ich oben. Über mir nichts. Unter mir nichts. Alles umher ist weiss.”

Vielleicht sollte man sich öfter auf Vernissagen in Berlin-Mitte herumtreiben. Dort kann man, da bin ich mir sicher, noch Einiges übers Scheitern, produktiv oder nicht, lernen. Und sollte sich einmal die Gelegenheit ergeben… Bis dahin denke ich – siehe oben – über die beiden anderen Personen nach.