Playing adults. Bourdieu zu Gast im Soho House

Manche Wünsche gehen ganz beiläufig in Erfüllung. Nach Jahren der erfolglosen Versuche, mir Zugang zum Soho House Berlin zu verschaffen, nach all den Kontaktakquisen und Mogelversuchen, fand ich mich kürzlich unverhofft eben da, im Kreis einer sehr skurrilen Gesellschaft, halbwegs gekonnt meinen defizitären Habitus überspielend. Aber von vorn.

Das Soho House basiert auf der Idee eines vormodernen Herrenclubs. Hier ist die Exzellenz unter sich, man trifft sich zum gepflegten Gespräch, zum Whiskey mit Zigarre am Kaminfeuer und um Kontakte zu knüpfen. Im Jahr 2013 spielt das Geschlecht seiner Mitglieder natürlich keine Rolle mehr. Unverändert hingegen regiert das Prinzip der strikten Auslese. Über die Aufnahme neuer Mitgleider waltet ein Komitee. Wer unbeschränkten Zugang zum Soho House haben will, muss neben einem vergleichsweise geringen Geldbetrag den Nachweis erbringen, wichtig genug zu sein, wichtig in welcher Hinsicht auch immer. Limitierten Zugang zum Soho House haben auch Menschen, die nicht ganz so wichtig sind, wenn sie das Glück haben, ein Mitglied zu kennen, das sie in den illustren Kreis einführt. Ich selbst kenne niemanden, aber jemand, der jemanden kennt und so kam es, dass ich an einem Montagabend endlich eine Gelegenheit hatte, das neue, für 95 % Prozent der Anlässe in Berlin viel zu schicke Kleid auszuführen.

Aus der strengen Selektionspolitik des Soho Houses folgt die prinzipielle Aufwertung all derer, denen man hier begegnet. Niemand genießt einfach so seinen perfekt temperierten Champagner an der Rooftop-Bar, von der man, wie erwartet, einen herrlichen Blick über die Stadt hat und auf sie herab, auf all die Leute, die jetzt durch den Regen eilen, während dieser die Oberfläche des Außenpools aufpeitschende Regen für diejenigen, die im Trockenen sitzen, ein Plus an Atmosphäre bringt. Das Gefälle zwischen uns im zehnten Stock (mich eingeschlossen, auch wenn ich mich zeitweilig fühle wie eine Hochstaplerin) und denen da unten könnte nicht größer sein. Dementsprechend ist der schönste Aspekt des Soho House dieser: Immer und überall hat man das Gefühl, etwas Besonderes zu sein und erwartet zu werden. Beim Betreten der prächtigen Lobby (nicht zu prächtig, der Berliner mag Protz ebenso wenig wie der Brite), wenn das freundliche, multilinguale Personal einen Blick auf seine Liste wirft und frohlockt: “Sie werden in der Lounge erwartet!”, an der Tür zur Lounge, in der Lounge (hier ausnahmsweise von Leuten, die man wirklich kennt) und so weiter und so fort. Der durchschnittliche Soho House-Besucher will sich wichtig vorkommen, aber nicht zu wichtig – und das gilt besonders für jene, die wirklich wichtig sind, etwa die britische Band Arctic Monkeys, die im Restaurant, das hier “House Kitchen” heißt, am Tisch neben uns sitzt. Dazu später mehr.

Kaum habe ich mir einen Überblick über die Rooftop-Situation in der Lounge verschafft, ist unser Tisch fertig und wir werden ein Stockwerk tiefer ins Restaurant gebeten (wo wir natürlich bereits erwartet werden). Platziert werden wir an einem der runden Tische, darauf besteht unsere Gastgeberin, der wir das heutige Ereignis verdanken, denn die runden Tische sind die besten. Kerzenleuchter werden entzündet, das Wachs tropft dramatisch auf die schwere Eichenholztischplatte. Erfreulicherweise gibt es an diesem Abend 50 % Rabatt auf alle Speisen und Getränke, was der Dekadenz Tür und Tor öffnet. Wein wird flaschenweise geordert. Ein wenig habe ich das Gefühl, Minderjährigen zuzuschauen, die sich unerlaubterweise bei Abwesenheit der Eltern an deren Hausbar zu schaffen machen. Die Bevorzugung simpler Sorten, die man aus dem gängigen Supermarktsortiment kennt, lässt auf eine gewisse Unbeholfenheit schließen. Offensichtlich hat mein Gegenüber (weißes Hemd, sleeker Haarschnitt, Züge, die ins Snobistische gehen) keine Ahnung von Wein, was ihn nicht davon abhält, mit kennerhafter Miene den ersten Schluck zu kosten, während der Kellner hinter ihm so tun muss, als würde er die Flasche notfalls wieder mitnehmen. Stirnrunzeln, Naserümpfen, dann das Okay für den Kellner. Dieser spricht überraschenderweise nicht nur akzentfreies Englisch, sondern auch kein Deutsch. Kosmopolität wird hier großgeschrieben!

Während sich die Runde wie ausgehungert über den Gruß aus der Küche hermacht (perfektes Brot mit Meersalzbutter), ergeht sich mein Sitznachbar linkerhand, nennen wir ihn Peter, in Ausführungen, die jedem Kapitalismuskritiker die sprichwörtlichen Haare zu Berge stehen lassen würden. Peter hat sich dereinst als Kindergärtner versucht und vieles spricht dafür, dass dies seine wahre Berufung ist, so wie seine Augen glänzen, wenn er von den kleinen Rackern erzählt. Allerdings hat Pete vorzeitig bemerkt, dass bei einer solchen Tätigkeit der Ferrari in weite Ferne rückt, weswegen er sein internationales Marketingstudium an einer renommierten Privatschule aufgenommen hat. Mit meinem seltsamen Studienfach kann ich nicht wirklich punkten, auch wenn der kreative Anteil höfliches Interesse auslöst.

Unter den an befremdlichen Aspekten nicht armen Abend ist dieser vielleicht der befremdlichste: Livrierte Kellner, perfekt gestylte Hostessen und diskrete Bartender bedienen einen Haufen Kids, die kaum alt genug sind, um Auto zu fahren. Playing adults nennt es meine Nebensitzerin und sie scheint mir von all den Anwesenden noch die Reflektierteste zu sein. Nicht nur bin ich die Älteste in der Runde, sondern auch die mit dem erkennbar falschen Habitus. Der Habitus strukturiert dem französischen Soziologen Pierre Bourdieu zufolge die sozialen Umgangsformen eines jeden Menschen und ist nur teilweise umkodierbar. Vielmehr entscheidet das sogenannte Milieu, in das wir hineingeboren werden, über einen Großteil unserer Handlungen, wie wir sprechen, wir wir Gefühle ausdrücken, ja sogar, wie jemand in ein Auto einsteigt. Dem sprichwörtlichen Tellerwäscher werden Handgriffe wie das Zerlegen eines Hummers niemals intuitiv von der Hand gehen, gleich wie viele Millionen er auf dem Konto hat. Selten war mir Bourdieus Theorie so praktisch erfahrbar, so nah wie hier, an diesem schweren Eichentisch im neunten Stock des Soho Houses, umgeben von jungen Menschen, denen die Reihenfolge des Bestecks in die Wiege gelegt wurde.

In einem Anflug von Dekadenz (50 % Rabatt!) bestelle ich Steak Tartar mit Wachtelei und Trüffelöl und ein Großteil meiner Aufmerksamkeit konzentriert sich fortan darauf, wie ich mit diesem Wachtelei verfahren soll. Es ist roh und genau genommen nur die Hälfte eines Eis und thront auf dem kleinen Häuflein Fleisch. Soll ich es über das Fleisch kippen? Auf den beiliegenden Toastchip? Es liegen lassen? Immerhin habe ich es geschafft, die Serviette korrekt auf meinem Schoß zu platzieren. Mit beschämten Seitenblicken zum Weinglas meines Nachbarn versichere ich mich der Richtigkeit meiner Trinkgeschwindigkeit. Währenddessen lausche ich einem Gespräch über die Abstufungen der Steakgarung (okay, das wusste ich schon) und lerne, dass die Skala jenseits von „medium-rare“ einen als kulinarischen Vollbanausen charakterisiert. Mitten hinein in das Fachsimpeln über Steaks werden die Steaks serviert, ein jeweils ordentlich großes Stück Fleisch, in der Mehrheit, man ahnte es bereits, praktisch roh, nebst einem Salatbouquet, für die Vitamine. Wir essen. Der junge Herr mir schräg gegenüber – nennen wir ihn John der Erste (denn es sitzen zwei Johns am Tisch) – schnippt empört nach dem Kellner: Das Steakmesser fehlt! Während der Kellner beinahe über seine eigenen Füße stolpert, so sehr beeilt er sich, dem Wunsch seines jungen Gebieters nachzukommen, schenkt John der Erste dem Mädchen zu seiner Linken Weißwein nach mit den Worten “May I be so kind?”, was auf mich einen sehr pikierten Eindruck macht und mich an den Englischunterricht der Sekundarstufe erinnert, als man noch glaubte, jeder Brite werfe mit Floskeln nur so um sich. Das Mädchen mit dem nun praktisch randvollen Glas Wein ist auffallend dünn und stochert, kein Scherz, in einem Papayakoriandersalat herum. Wie jede Runde lebensverwöhnter Wohlgeborener braucht auch diese eine anorektische Persönlichkeit. Ich sehe es an ihren überagierten Gesten, ihren Reaktionen, die stets ein wenig over the top ausfallen und ihren dünnen Handgelenken. Als sie fertg ist mit ihrem Salat, steckt sie triumphierend die Fingerspitze in das Schälchen mit Mayo vor sich auf dem Tisch, leckt sie ab und ruft: “Ooooh, delicious!”

Die ersten Weinflaschen leeren sich, mehr Wein muss her. Zum Dessert gibt es ein recht mittelmäßiges Fondant au chocolat mit Pecannusseis, Sticky Toffee Pudding (meine Nebensitzerin sagt, der ihrer Oma schmecke besser) und Johannisbeertarte. Etwa in diesem Moment, als ich mich dem Sättigungspunkt in jeder Hinsicht nähere, dem meines Magens und dem meines Gefühls von Elitarismus, bemerkt einer aus der Runde, vielleicht war es John der Zweite, die Prominenz am Nebentisch. Abgesehen davon, dass ich die Arctic Monkeys nicht erkannt hätte, weil ich meine Britpopzeit schon eine Weile hinter mir gelassen habe, empfinde ich es als selbstverständlich, sie nicht durch Starren, Tuscheln, gar mit dem Finger zeigen zu belästigen. Gerade hier sollen berühmte Leute von ihrer Berühmtheit verschont bleiben, oder? Und da zeigt er sich dann doch, Bourdieus “feiner Unterschied”, wenn auch anders, als gedacht. Keine dreißig Sekunden später wissen alle, dass neben uns die Band Arctic Monkeys sitzt. Großer Tumult. Synchrones Köpfedrehen. Die Mädchen kichern. Ein paar der Jungs versuchen allen Ernstes, ein Foto mit ihrem Smartphone zu machen. Der perfekte Krawattenknoten droht zu verrutschen. Mir ist das unfassbar peinlich und ich wünsche mir das Wachtelei auf meinen Teller zurück, dem ich meine Aufmerksamkeit zuwenden könnte. Egal, in welche Richtung die folgenden Konversationen gehen (exklusive Parties, die Unsinnigkeit der Erasmusauflagen, das generelle Wohnungsproblem in Berlin, von dem scheinbar auch ausländische Töchter prominenter Väter nicht verschont bleiben), stets kehren sie zu der Band am Nebentisch zurück. Kurzzeitig bietet mir die Damentoilette Zuflucht, die unerklärlicherweise eine Dusche bereithält.

Es wird immer später, der australische Kellner reißt Witze über sein Heimatland und ich will nach Hause. Wir bezahlen. Das Trinkgeld, nebenbei bemerkt, steht in keinem Verhältnis zur großverdienerischen Geste unseres Besuchs. In der Lobby finden die Mäntel wie beiläufig zu ihren Besitzern zurück. Wir gehen nach draußen, wo uns die Realität des Berliner Novembers hart ins Gesicht schlägt und der Regen, der vorher so malerisch gegen die Scheiben klatschte, nur noch unangenehm ist. Das Spiel ist vorbei. Keiner bestellt ein Taxi, wir zerstreuen uns in Richtung Nachtbus; es ist, als ob wir unsere dekadente Haltung hinter den schweren Eingangstüren des Soho House zurückgelassen hätten.

Zum Abschied fallen sich alle in die Arme. Zuvor jedoch muss John der Erste davon abgehalten werden, noch einmal in den zehnten Stock zu fahren, um Glyn Jones, den Sänger der Arctic Monkeys, um ein Autogramm zu bitten oder ein Foto oder seine Emailadresse, so klar ist das nicht. Mir würde so etwas niemals in den Sinn kommen. Liegt vielleicht daran, dass ich ein wenig erwachsen geworden bin. Oder an meiner total mittelschichts-unspektakulären Erziehung, die mir beigebracht hat, nicht mit dem Finder auf andere Leute zu zeigen.