Bilder mit Schleifen

Was ist das für ein Ding mit zwei paar Jeansbeinen, vier Armen, zwei T-Shirts, alles ineinander verknotet und ohne Gesicht? Es sind zwei Menschen, kunstvoll balanciert der eine den anderen auf seinem Rücken. Ich denke an Atlas, der die Weltkugel auf seinen Schultern trägt und dann wie das ist, wenn einer zum anderen sagt: Du bist die Welt für mich. Für Atlas war die Last untragbar und eine Strafe noch dazu; hier scheint es als schwebte der obere Körper auf dem unteren, als berührten sie sich lediglich an einem Punkt. Diese Leichtigkeit des Scheins wird unterstützt durch die Schneeflocken, die vom schwarzen Himmel fallen. Es könnten auch Federn sein! Mit nackten Füßen steht der Eine auf einer festgetretenen Schneedecke, man stellt sich vor, wie kalt seine Füße später sein werden. Gut, dass der Himmel nicht ganz schwarz ist, denn der rötliche Lichtstreifen leuchtet mit dem strahlenden Weiß des Untergrundes um die Wette. Das Foto heißt überraschenderweise La lutte de j. avec l’ange II und wurde auf der Eisdecke eines Salzsees aufgenommen und wie ein Kampf wirkt es eigentlich nicht. Aber wenn einer zum anderen sagt: Du bist die Welt für mich, dann ist das ja auch wie Kämpfen.

Schon der Titel der Ausstellung – seit morgen – nimmt die träumerische Perfektion vorweg, die jedem von Sascha Weidners Fotos zu Eigen ist. Ihn interessiert die Vollkommenheit eines Augenblicks und seine Bilder handeln “von diesem Moment, wenn man die Schönheit nicht mehr ertragen kann. Und wenn in der Schönheit auch eine Grausamkeit eintritt.”

Erinnert sich jemand an die Szene in dem Film American Beauty, in dem die Videoaufnahme einer Plastiktüte zu sehen ist, die vom Wind hin und her geweht wird, begleitet von der Stimme aus dem Off, die zum fragwürdig exzentrischen Vorstadtjungen gehört, der erklärt, dies sei das Schönste, was er je gesehen habe? Der Vater dieses Jungen geht ja dann später los und schießt dem Protagonisten ein Loch in den Kopf, was eigentlich hier nichts zu Sache tut, dann aber doch, denn am Ende des Filmes hören wir den Hauptdarsteller im Rückblick auf sein Leben sagen, er habe oft versucht, die ganze Schönheit festzuhalten und es nicht geschafft und es beinahe nicht ertragen. Dann habe er losgelassen und “die Schönheit sei durch ihn hindurchgeflossen” und er sei dankbar gewesen für jeden Moment in seinem kleinen, dummen Leben (so oder so ähnlich). Wunderbare letzte Worte und wunderbar korrespondierend mit Sascha Weidners oben zitierter Aussage.

Wieder denke ich an die Plastiktüte aus American Beauty als ich ein anderes Foto betrachte. Da schwebt ein Taschentuch über einer bunt leuchtenden Stadt. Die Stadt ist Los Angeles, die Aufnahme entstand auf einem der umliegenden Hügel. Wieder trennt ein schmaler Farbverlauf, lila diesmal, den Horizont vom Ufer und die Lichter sind da am Hellsten, wo der Strand beginnt. Wie ein kleines Flugzeug, ein Segelflieger wirkt das blütenweiße Papiertaschentuch und man fragt sich, ob der Wind es umherwirbelt wie die Plastiktüte im Video (eher nicht) oder ob es nicht vielmehr schwebt, weil die Nächte in Los Angeles wahrscheinlich stiller sind als die Tage in der amerikanischen Kleinstadt, zumindest oben auf den Hügeln.

Viele der Aufnahmen sind Nachtbilder. Ein anderes ist ganz schwarz, mit kleinen Lichtpunkten darauf. Sterne, na klar! Wenn man aber ganz nahe herantritt, so nah, dass man froh ist, dass es das Personal im C/O offensichtlich nicht so genau nimmt mit dem Sicherheitsabstand zwischen Betrachter und Kunstwerk, kann man erkennen, dass das gar keine Sterne sind, sondern kleine bunte Pillen. Cancer II hat der Künstler es genannt und die Wechselwirkung, die sich aus der Beziehung der trostbringenden Medizin, der astrologischen Bedeutung (denn auch ohne fundierte Kenntnisse von Himmelskonstellationen glaube ich schlussfolgern zu können, dass wir es hier mit dem Sternbild des Krebses zu tun haben) und der todbringenden Krankheit verstört, macht Angst, lässt einen, anders als die meisten anderen Fotos, verstört zurück.

Man muss aber einräumen: Keineswegs sind die Fotos von seit morgen eine bunte Gute-Laune-Mischung. Ästethisch, keine Frage, aber wie oft haben die feinen Kompositionen, die dem Betrachetrauge schmeicheln, einen dunklen Unterton? Da gibt es die Aufnahme eines Mädchenhemdes, weiß mit Spitze und blutverschmiert. Ohne weitere Hinweise auf seine Besitzerin und die Umstände, die zu den unschönen Flecken geführt haben, zu geben, liegt es da als großes Fragezeichen, zerknittert auf fleckigem Teppich. Die meisten der Fotos geben ihre Geschichte nicht preis, was ihren Zauber bewahrt. Wenn doch, wie bei dem Porträt von Weidners Mutter, das gar keines ist, weil man das Gesicht der alten Dame nicht sehen kann, denn sie hält sich ein kleines Foto vors Gesicht, dann ist es eine traurige Geschichte. In einem Interview verrät der Künstler, dass dieses Foto kurz vor dem Tod seiner Mutter entstand. Sie wollte sich nicht mehr zeigen, also wählte sie die Bild-im-Bild Option: Das Mädchen im Sommerkleid auf der kleinen Schwarz-weiß-Aufnahme, dessen Blick dem Fotografen nicht begegnet und ein Rehkitz in den Armen hält, ist die Mutter selbst.

Wo sind sie denn, die titelgebenden Schleifen in den Bildern? Ich finde: Die Fotos sind so schön, dass man jedem von ihnen eine kleine rote Schleife umbinden möchte. Die Fotos sind auch wie kleine Geschenke mit Schleifen drum, über die man sich freuen kann. Oder es geht in Wahrheit um Zeitschleifen, wie Endlosschleifen, nur dass sich hier nichts wiederholt, sondern einfach stehenbleibt. Das wäre dann der perfekte Moment. Weil man so viel Schönheit auf einmal aber nicht ertragen kann, schon gar nicht in Endlosschleifen, sind es eben doch nur Fotos und keine Realitäten. Dankbar ist man Sascha Weidner trotzdem, für die perfekten Momente, die einem diese Ausstellung geschenkt hat. Dass das Schöne dabei immer auch ein bisschen grausam ist, wusste man eigentlich schon.