Berlin, Du bist so…

Wenn man lange weg war und dann zurückkommt in die eigene Stadt, ist man immer erst mal wie fremd. Man hat dann den Blick für das Fremde im Eigenen, verwandt mit dem Eigenen im Fremden, worüber an dieser Stelle bereits laut nachgedacht wurde. Man könnte auch sagen: Man ist Tourist. Damit kategorisiert man sich in Berlin gleich mal in eine mit vielen Vorurteilen beladene Menschenspezies hinein, die sich mit Berlin doesn’t love you! Stickern auseinandersetzen muss und wütenden Türstehern, die schreien “Then go fucking back home!”. Kann man aber auch als Chance begreifen, sich etwas von der Neugier, die dem Umherstreifen in unbekannten Städten zu Eigen ist, anzueignen und vom Sich-Wundern, wenn man neu ist in einer anderen Stadt.

Berlin im Spätsommer – das ist erst mal Tourismushochsaison. Wie eben zu jeder anderen Jahreszeit. Stetig rollen die Trolleys die Warschauer Brücke hinunter, davor die erwartungsvoll leuchtenden Ausgehgesichter. Renate Künast wurde kürzlich gefragt, wen sie mehr hasse, “die Easyjet Raver oder die Kulturtouristen, die mit Lodenmantel vor dem Tacheles herumstehen” und ich glaube, diese Frage sollte sich jeder, der hier wohnt, wenigstens ein Mal gestellt haben. Wobei die Mehrheit des Tacheles Publikums, glaube ich, eher aus Easyjettern besteht, denn die wollen bei Tag ja auch irgendwie bespaßt werden. Mitte ist ja auch Titte, aber heute aber erst mal Simon-Dach Kiez, wo man beim Durchschlendern an jedem Tag der Woche an jedem Tag des Jahres das Gefühl hat, alle haben gerade wieder Urlaub. So viel wird hier gefrühstückt, gebruncht, gesnackt. Soziologe Heinz Bude sagt, Kreuzberg finde er deswegen furchtbar, “weil es da zu viele gibt, die nicht wirklich etwas zu tun haben, die im Café sitzen und Bilder von sich selbst entwerfen.” Da ist was dran, möchte man rufen, wenn man die Simon-Dach Straße hinter sich lässt und die Straße hinunterläuft, vorbei an der KAISERS Filiale, die jetzt tatsächlich von Montag bis Samstag durchgehend geöffnet hat (und das in einem Kiez mit einer der höchsten Späti-Dichten der Stadt), die Straße, die neuerdings zum Slut walk auserkoren wurde, von einem der vielen für den gemeinen Berliner Bürger namenlosen Tagger, über die Brücke, nach Kreuzberg hinüber und am Watergate vorbei, wo man fürs LED-Decke-Fotografieren des Hauses verwiesen wird und dann unter der U-Bahn Trasse hindurch in den Wrangeliez hinein.

Den Unterhaltungswert der Strecke als solche steigern dieser Tage die vielen Wahlplakate. Neben den recht wenig bescheidenen Exemplaren mit Wowereits Konterfei und sonst nichts oder zumindest nichts, was einer wirklichen Aussage nahe kommt, gibt es den drolligen Hasi, der Hauki wählen würde, dessen Gesichtsausdruck an verbotene Substanzen denken lässt (Martenstein weiß: Das Alkoholverbot auf öffentlichen Plätzen in Berlin, das sich einige der Parteien auf die Fahne geschrieben haben, ist überflüssig, denn es wird auf den öffentlichen Plätzen eher gekifft als getrunken) und die Schilder, die lakonisch die Plakate der anderen kommentieren: “Piraten wählen”. Nicht zu vergessen das wunderbare Wahlprogramm der PARTEI: “Wowereit ausstopfen! Künast frisieren! Knut wiederbeleben!” Die FDP hat sich übrigens einer ganz besonders raffinierten Marketingstrategie bedient, indem sie nämlich auf den Underground-Zug aufgesprungen ist, sozusagen, und in Friedrichshain Tags platziert hat mit der Parole “FDP wählen!”.

Berlin im Spätsommer, das ist genau wie zu jeder anderen Jahreszeit auch der Moment für schlechte und/oder schlechtplatzierte Werbung im öffentlichen Raum. Ganz aktuell die Berliner Werbung (Achtung Wortspiel: Hierbei handelt es sich in diesem Fall um eine Biersorte, wobei Bier ja durchaus zu den Grundnahrungsmitteln des Einheimischen gezählt werden muss, gemessen an der Anzahl derer, die ihre Bierflasche sehr sophisticated zum Anzug durch die Stadt spazieren tragen; eine nette Alternative zum Coffee to go) mit dem unglaublich hohlen, unglaublich einfallslosen Slogan “Berlin, Du bist so wunderbar.” Passt gut in die Schublade der “be berlin!” Kampagne, an der sich deren Schöpfer wahrscheinlich dumm und dämlich verdient hat und zu der Frage führt, ob man das nächste Image-Bashing vielleicht besser einem der zahllosen namenlosen Tagger anvertrauen sollte, mit viel subversivem Charme.

Aber wie bist Du denn jetzt eigentlich, Berlin? Bist Du neuerdings “reich, aber sexy?” mit all den Gutverdienern und Zweitwagenfahrern und den Carlofts? Bist Du wild, frei, losgelöst, durchweht Dich ein Hauch von Anarchie, besonders nachts, wenn die Autos brennen (die Bergpartei weiß: “Fahhräder brennen nicht!”)? Bist Du familienfreundlich, grün im doppelten Wortsinn und ein Hort für Lebensmittelbefindlichkeiten aller Art? Oder doch ganz anders?

Auf dem Straßenschild Falckensteinstraße Ecke Wrangelstraße steht eine kleine Figur, ein Männchen – Berliner? – das die Arme in die Luft reißt, als ob es Großes vorhätte. Es scheint sich zu freuen, auch wenn man auf die Distanz seinen Gesichtsausdruck nicht sehen kann. Ich hab das Männchen beim Warten an der Fußgängerampel entdeckt. Macht man ja eigentlich nicht, warten auf grüne Ampeln, zumindest nicht in diesem Teil der Stadt, was ihn mir gleich noch mehr sympatisch macht. Berlin ist nämlich eigentlich vor allem eines: Das, was man selbst daraus macht. Das kann hektisches Passanten-Drängeln auf der Rolltreppe sein, Drei Tage wach im (nicht mehr!) “besten Club der Welt” und nervöses beine-in-den-Bauch-stehen vorm neuen Hotspot am Spreeufer, nur um dann von der Dame an der Tür zum Schnick Schnack Schnuck-Spielen aufgefordert zu werden (“Wenn Du gewinnst, bist Du drin!”) und genervtes Warten nachts um eins bei KAISERS, wenn man doch eigentlich nur noch eine Cocktail-Zutat braucht und alle Kassen besetzt und alle Schlangen endlos sind, weil einige Leute um diese Uhrzeit ihre Wocheneinkäufe zu erledigen scheinen. Es kann aber auch Promenieren in Sonntag-Nachmittags-Geschwindigkeit sein (denn da muss getrödelt werden!), Nein zum Festivalmarathon im Sisyphos nach dem ersten Tag, und Ja zum sinnfreien, wunderbaren Mitmachen beim Nichtstun, sich mitreißen lassen von all den Kreativen und Lebenskünstlern und sich selbst fühlen als hätte man wieder mal gerade Urlaub. Manchmal ist es schwer, zu warten, nicht nur an der roten Ampel. Heute habe ich doch gewartet und das Männchen entdeckt. Und mich gefreut.