Bei IKEA gewesen. Den Kapitalismus verstanden

Am Ende des Erkenntnisprozesses bringt eine Tschechow-Figur mein Weltbild ins Wanken. Aber von vorn.

Freitag Vormittag, strahlender Sonnenschein. Unnötig zu erwähnen, dass die Temperaturen die 30 Grad heute erstmals überschritten haben; ein Umstand, der auf dem Hinweg nicht weiter ins Gewicht fällt. Einige Stunden später, beladen mit einer Tüte, die größer ist als ich selbst und einer Sackkarre, deren Inhalt mehr als ein Mal auf die Straße niedergeht, dann schon. Auf meine Frage nach dem kürzesten Weg zum Einrichtungshaus, antwortet der Busfahrer, dieser Scherzkeks, es gebe am Tempelhof schon seit zwei Jahren keinen IKEA mehr. Ich lache nicht. Dann fragt er, warum wir (wir, das sind die Süddeutschen) eigentlich alle nach Berlin kämen, so toll sei das hier doch nicht. Schließlich entlässt er mich mit der Weissagung, ich habe mir sicherlich den schlimmsten Tag der Woche für mein Projekt ausgesucht; Freitag sei Krieg. Vielleicht wollte mich deswegen niemand begleiten? Oder empfinden andere Menschen einen IKEA-Besuch etwa nicht als willkommene Abwechslung des Alltagstrotts, als Möglichkeit, die Seele baumeln zu lassen?

Dass dem nicht so ist, merke ich nicht sofort. Dank des sorgfältig verschleierten Warenkreislaufs, fühle ich mich mehr als Gast, denn als Kunde. In der Küchenwelt verteilen Damen in schwedischer Tracht ofenwarme Zimtschnecken (“Kanelbullar”) an die Besucher. Abgesehen davon, dass ich an jedem Hostessenschicksal Anteil nehme – je blöder der Aufzug, desto erniedrigender –bin ich begesitert von dieser Verkaufsstrategie. Erst erschnuppert der Kunde das Backwerk, für das er, bereits nach wenigen Metern Möbelausstellung ausgelaugt, durchaus bereit wäre zu bezahlen. Dann empfängt er die frohe Botschaft jener adretten Pseudo-Schwedinnen, die Zimtschnecken seien umsonst. Umsonst! Dankbar greift er zu, im Abgang die Information notierend, dass diese Zimtschnecken im IKEA-Foodstore zu erwerben seien. Gekauft!

Beim Schlendern durch die Möbelausstellung, gierig das Kanebullar kauend, wird bald klar: Abgesehen von einigen wenigen Ausreißern nach unten, etwa der Produktlinie im Keep calm and carry on-Style (“Vintage”), die wohl zeigen soll, dass das Zeitgeschehen nicht spurlos an IKEA vorüber geht, spricht absolut nichts gegen die Optik des weltbekannten Konzerns. Schließlich sind gutes Design und Massenproduktion kein Widerspruch. Das Billy-Regal repräsentiert vielleicht ein ganzes Jahrhundert, nicht bloß ein Jahrzehnt. Aber eines der ästhetischen Sorte.

Fatalerweise sehe ich von der Möglichkeit ab, einen Zwischenstop im Restaurant einzulegen. Hat man die Möbelausstellung nämlich einmal durchquert und ist vom ersten Stock ins Erdgeschoss gestiegen, gibt es kein Zurück mehr. Es ist ein Abstieg vom Licht ins Dunkel, von der Ober- in die Unterwelt. Zwar dringt auch in die Möbelausstellung kein Tageslicht, aber die weiten Räume bei gleichzeitiger Kleinteiligkeit ihrer Möblierung wecken diese Illusion. In der sogenannten Markthalle hingegen sind die Wände unifarben und der Boden aus Waschbeton. Eine Ausnahme ist die Gartenwelt, derart lichtdurchflutet und begrünt, dass der Kunde unbedingt verweilen will. Weswegen sich exakt hier ein Coffeeshop befindet (“Glascafé”), mit den selben Produkten wie das Restaurant ein Stockwerk höher zum doppelten Preis.

Wenn die Markthalle die Unterwelt ist, sind die gelb-weiß gewandeten Mitarbeiter die Fährmänner über den Styx. Ihre Aufgabe ist es, den auf seine Erbärmlichkeit zurückgeworfenen Kunden vom Dunkel ins Licht zu führen. Wobei: neonhell ist es ja überall. Die Tücke des Labyrinths, das die Markthalle ist, liegt in seinen Abkürzungen. Wer weiß, welche Schwingtür wohin führt, kann es in ein, zwei Minuten durchqueren. Mit ästhetischen Fragestellungen (“welcher Tortenheber zur Kuchenplatte?”) sollte man sie dagegen nicht belangen, schließlich sind sie keine Innenausstatter, sondern Pragmatiker. Leider setzt die Verfügbarkeit des Sortiments ihrer Kompetenz Grenzen: wenn ein Artikel aus ist, ist er aus, wen interessiert, was im Internet stand. Ich kann betteln, so viel ich will, das Geschirrhandtuch mit Fischmotiv (“Solkul”) ist ausverkauft.

Ausverkauft? Es ist wie mit dem Esel, vor dessen Nase die unerreichbare Möhre baumelt: jetzt will ich es haben, dieses blöde “Solkul”, unbedingt. Bekannterweise weckt der Kapitalimus Bedürfnisse, von denen wir nichts wussten, wobei eines das nächste bedingt. Das beste Beispiel sind diese schwarzen Eisenstangen für die Küche. Um sie nutzen zu können, braucht man die passenden Haken. Noch ehe man sich fragt, ob eine solche Vorrichtung nötig sei, ist bereits der passende Übertopf im Einkaufswagen gelandet, der natürlich befüllt werden muss, weswegen man in der Gartenabteilung eine Topfpflanze kauft, mitunter die erste seines Lebens, die dann natürlich nach einer Gießkanne verlangt. Und wehe, diese passt nicht zu den Küchenutensilien, die dereinst an der Eisenstange Platz finden werden! Weil diese so gut sichtbar sind, müssen sie schön sein, weshalb die Wahl auf den fünf-Euro-Holzkochlöffel fällt (unbedingt mit Holztinktur pflegen, im Regal gleich nebenan). Hätte der Kochlöffel sein Schicksal in der Schublade gefristet, hätte die Billigvariante gereicht. Es gibt bei IKEA nämlich beinahe alles in wenigstens zwei Preisklassen. So ist man permanent mit dem tatsächlichen oder Fantasiewert eines Gegenstands konfrontiert. Gleichzeitig wird man sich der eigenen Kaufkraft bewusst, ein frustrierender Denkvorgang. Wäre ich fluider, könnte ich mir die Knoblauchpresse aus der 365-Tage-Kollektion leisten (sozusagen die Haute Couture im IKEA-Sortiment), weil ich aber ein armes Würstchen bin, muss die Sparversion genügen.

Schlimm trifft dies den Kunden, weil er jede Anschaffung als Verlängerung des eigenen Ichs begreift. Produkte sind keine Gebrauchsgegenstände, sondern notwendig, um sich seiner selbst zu vergewissern. Manchmal entscheidet der Griff am Küchenschrank über Auftieg und Fall eines Menschenlebens. Alle Produkte im Einkaufswagen werden folglich mit dem Blick des potentiellen Besuchers begutachtet: was denkt er von mir, wenn er diesen Messerblock betrachtet? Oh, Du hast meine indirekte Lichtleiste bemerkt! Das Coffeetablebook-Prinzip beherrscht all unsere sozialen Beziehungen. Ein Billy-Regal bedeutet trotz seines soliden Designs (oder gerade deswegen) das gesellschaftliche Aus.

Hat man dieses Prinzip einmal durchschaut, wird alles nur schlimmer. Ein Besteckabtropfkasten wird in seiner Hässlichkeit zur persönlichen Beleidigung. Ganz abgesehen davon, dass in jeder zweiten Küche exakt diese Ausgeburt an schlechtem Geschmack vorhanden ist – wer will schon Durchschnitt sein? Dementsprechend froh bin ich, als ich ein Alternativmodell in mattweiß finde. Froh ist gar kein Ausdruck! Eher verspüre ich tiefe Dankbarkeit angesichts der Vielfalt des IKEA-Sortiments, das mich vor dem Durschnitt ebenso bewahrt wie vor der täglichen Konfrontation mit dem falschen Besteckabtropfkasten.

Am Ende ist der Einkaufswagen so voll, dass ich mehrere Stapel bilden muss, ja, nein, vielleicht, der Klassiker. Eine halbe Ewigkeit prüfe ich die Vor- und Nachteile zweier Karaffen (“Stockholm” und “Kejsarkrona”), bis mir einfällt, dass ich gar nicht mehr weiß, wie die eine aussieht und weil ich die Verpackung nicht beschädigen will, eile ich zu deren Standort zurück, der sich natürlich im vorderen Viertel der Markthalle befindet. Zeit und Raum verschwimmen. Klärende Gedanken werden von diesem furchtbaren IKEA-Jingle überlagert, diesem Doing-Doing, ähnlich einem Didgeridoo, begleitet von einer penetranten Duz-Stimme mit skandinavischem Akzent.

Vorm Karaffenregal bemerke ich erstmalig das Schild an “Kejsarkrona”: “Mundgeblasen, jedes Exemplar wurde von einem talentiertern Kunsthandwerker gefertigt.” Eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für das Kreativprekariat! Meine Entschiedung ist gefallen. Jetzt flugs zurück zu den drei Stapeln (nicht auszudenken, wenn sie das kompetente Personal bereits aufgeräumt hätte!). Noch sind die Würfel nicht gefallen. Da ich nicht mit Entscheidungsfreude gesegnet bin, bringt mich das erneute Sortieren dieser Stapel so durcheinander, dass ich allen Ernstes kurz vor der Kasse meine PIN für die Bankkarte vergesse. IKEA hält auch hierfür eine Lösung bereit, soll doch der Kunde so kurz vorm Ziel nicht am Konsumieren gehindert werden. Eine Unterschrift auf dem Kassenbon genügt. Die Summe darüber ist selbstverständlich von so umfassender Beliebigkeit, dass ich mehrere Minuten brauche, um sie in ein realistisches Verhältnis zu meinem Saldo zu setzen. So lange greift das “Die-paar-Kleinigkeiten-Prinzip”, das jeder Mann kennt, der Frauen beim Shoppen begleitet.

Zitternd vor kognitiver und physischer Schwerstarbeit, begebe ich mich doch noch einmal in das Restaurant im Obergeschoss. Nicht ohne zuvor bei IKEA Food Lebensmittel im mittleren zweistelligen Bereich einzukaufen. Es soll ja Leute geben, die nur der Köttbullar wegen zu IKEA fahren. Ich eher wegen des Rhabarbersirups im Sommer und im Winter wegen des Glöggs. Nicht umsonst befindet sich IKEA Food hinter den Kassen. Hier machen sie sich das schöne Prinzip zu Nutzen, dass große Beträge kleinere Summen sehr viel kleiner erscheinen lassen als sie tatsächlich sind, nach dem Motto “jetzt is eh egal.” Wer ein Auto für 30 000 € kauft, empfindet die 2000 € für die Ledersitze als Peanuts. Das habe ich mir nicht ausgedacht, das ist wissenschaftlich erwiesen.

Als ich dann endlich, endlich im Restaurant sitze, mein Softeis in der Hand (“Mjukglass”), fällt mir ein, dass ich den Badspiegel vergessen habe. Ich gehe also wieder nach unten, lasse meine Einkäufe vom Kundenservice betreuen (welcher dem Konsument auch nach getätigtem Tauschgeschäft ein Gefühl des Aufgehobenseins gibt), nehme diverse Abkürzungen durch die Markthalle (voll Triumph all jenen gegenüber, die noch brav den Pfeilen folgen!), nur um dann vor dem leeren Regal mit dem Namen zu stehen, den sie sich bei einer Tschechow-Figur geliehen haben. Kolja ist ausverkauft. Ausverkauft? Kurz habe ich das Gefühl, mir werde der Boden unter den Füßen weggezogen. Dann erinnere ich mich an das Geschirrhandtuch mit Fischmotiv, ohne das mein weiteres Leben keinen Sinn macht. Da lohnt sich der nächste Besuch gleich doppelt.