Alles hat ein Ende, nur die Placebowurst hat keins

Käsekrainer, die: Leicht geräucherte Brühwurst mit grobem Brät aus Schweinefleisch und einem Anteil von 10 bis 20 % Käse (z. B. Emmentaler) in kleinen Würfeln. Ich ergänze: Es handelt sich bei der Käsekrainer um eine Art österreichisches Nationalheiligtum, gegen das Banalitäten wie die gemeine Berliner Currywurst keine Chance haben. Man “genießt sie am besten frisch an einem Würstlstand. Wer sich dort ‘a Eitrige’ bestellt, bekommt eine leckere Käsekrainer mit Senf im Brötchen” (dieses Zitat entnehme ich der Website www.meisterwurst.de, die etwaiigen Hasstiraden aufgebrachter Vegetarier mit niedlichem Humor begegnet). Spätestens beim Mundart-Begriff “Eitrige” wird klar, dass es sich bei dieser Spielart der Imbissspeisen um ein perverses Vergnügen handelt. Wenn man hineinbeisst, läuft der heiße Käse heraus, das Brötchen aus sündigem Weißmehl ist ganz bestimmt nicht vom Biobäcker und die fettige Wurst wahrscheinlich auch nicht vom glücklichen Schwein. Trotzdem schmeckts. Oh ja, ich gebe zu, es kann einem vorkommen, wie ein Stück vom Glück, wie eine gütige Gabe des Fleischfressenden Gottes, besonders nachts, mit dem bekanntlich vom Alkohol geschürten Heisshunger.

Bei meinem letzten Wien-Besuch stellte ich fest, dass meine Lieblingsbar “Donau” das Sortiment des liebevoll bestückten Kiosk neben der Tanzfläche um eine “vegane Käsekrainer” erweitert hatte. Das macht in etwa so viel Sinn wie Berghain ohne Techno, nämlich gar keinen. Wenn man allerdings bedenkt, dass die Placebowurst dabei ist, die Welt der Karnivoren zu erobern – und das auf ganz und gar perfide Weise! – dann wundert man sich höchstens noch, dass man gerade in Österreich ist.

Eins vorweg: Die Entwicklung, die Großstädter allgemein und Berliner insbesondere und aufgeklärte Studenten ganz besonders gerade durchmachen – weg vom bloßen Stillen eines Bedürfnisses, hin zu einem bewussten Umgang mit Essen – finde ich ganz und gar begrüßenswert. Es stimmt ja gar nicht, dass auf den WG-Speiseplänen dieses Landes entweder Tiefkühlpizza oder Spiegelei stehen und zum Monatsende hin maximal Nudeln mit (Tomaten-) Soße, genauso wenig, wie ich niemanden kenne, der von Döner und Burger allein lebt (wobei die Burger-Manie in meinem direkten Umfeld zuletzt groteske Züge angenommen hat, wie schon an anderer Stelle beobachtet). Mag sein, dass für frisch dem Elternhaus Entkommene die allerwichtigste Nummer die des Sushilieferanten oder von “Joey’s” ist. Trotzdem wage ich zu behaupten, dass viele Leute in meinem Alter dämliche Titel wie “Das große Studentenkochbuch” gar nicht nötig haben. Weil Kochblogs mittlerweile so beliebt sind wie Fashionblogs. Ein schönes Beispiel für die Begeisterung am Essen sind gemeinsame Kochabende (immer eine feine Idee: Wein und Käseverkostung, Tapasrunde und endlich, dem neuen WG-Waffeleisen sei Dank: Waffelparties!), WG-Großeinkäufe im Biomarkt und Rezepte, die im Freundeskreis herumgereicht werden (wirklich, in luziden Momenten fühle ich mich dem Hausfrauendasein schon sehr nahe).

Discounter bedienen den Wunsch nach bewusstem Essen ebenso wie Cafébetreiber von Neumünster bis Neustrelitz mit dem Angebot von laktosefreier Milch (das ich dankend annehme), regionalen Zutaten (warum nicht? Solange ich den Winter über nicht nur von dem leben muss, was mit dem “Biokistel” ins Haus flattert) und dem beinahe schon lächerlich überstrapazierten Label “bio”. In diese Kerbe will ich gar nicht schlagen, das haben schon zu viele vor mir gemacht, schließlich weiß jeder, dass nicht überall “bio” drin ist, wo “bio” drauf steht usw. usf. Sowieso verkauft mittlerweile selbst ALDI Süd in meiner schwäbischen Heimat Bioeier und Biomilch, sodass sich Foodavantegardisten etwas Neues einfallen lassen mussten. So kommt es, dass es nicht mehr reicht, das biologische Gewissen mit dem wöchentlichen Besuch bei “Alnatura” zu beruhigen, nein, en vogue ist jetzt, wer auf vegan umstellt.

Noch hat man als veganer Zeitgenosse nicht viel zu lachen. Dem Bericht einer guten Freundin, der eigentlich eine Leidensgeschichte ist, entnehme ich, dass von fünf Berliner Bäckern im Durchschnitt vier nicht sagen können, was in ihrem Brot drin ist. Ferner, welchem Martyrium die Mittagspause gleicht, die größtenteils für die Suche nach einem veganen Snack drauf geht – und das selbst im trendy Mitte. Ganz abgesehen von den Freuden des gemeinsamen Kochens und Essens mit Nicht-Veganern, weil für einen selbst maximal ein bisschen Salat abfällt, ohne Dressing, denn da ist Honig oder Joghurt oder sonst was dran. Trotzig wie sie ist, stellte sich meine Freundin der Herausforderung, erfreute sich an kleinen Erfolgserlebnissen wie der Entdeckung eines veganen Supermarktes am Prenzlauer Berg oder des veganen Cupcake-Ladens im eigenen Kiez oder dem Austausch mit anderen mehr oder weniger frustrierten Leidensgenossen – bis sie nach einigen Monaten angesichts der Schlechtgkeit der karnivoren Welt kapitulierte. So wie meiner Freundin, stelle ich mir vor, muss es dem Erfinder der Placebowurst ergangen sein. Tofu ist nämlich so last year – diese Saison gehört dem Seitan. Dabei handelt es sich um eine Substanz, die verblüffende Ähnlichkeit mit einem Stück totem Tier hat und die sich auf vielerlei Art durchaus schmackhaft zubereiten lässt, wobei eine Geschmacksnuance immer fehlt: Die von echtem Fleisch.

Um den Verdacht, den der Leser jetzt haben mag, ein für alle Mal zu klären: Ja, ich esse Fleisch, relativ selten, aber unglaublich gerne, ja, ich achte mittlerweile auch darauf, woher es kommt, aber nein, es ist für mich keine Option, jemals darauf zu verzichten, denn ja, ich glaube, dass der Mensch zum Fleisch essen gemacht ist. Zwar lasse ich für einen Tofuburger beim “Frittiersalon” jedes Beef-Ding stehen und wenn ich an die veganen Panini im Hamburger “Café Latte” zurück denke – auf dass es noch viele Jahre so prosperiere! – gerate ich noch heute ins Schwärmen. Fleischlos glücklich geht schon. Rätselhaft ist mir deshalb, warum jene, die glauben, der Mensch sei nicht zum Fleisch essen gemacht, nach Produkten verlangen, die Fleisch so gut als möglich imitieren. Was haben die Veganer bloß mit ihren Pseudowürsten? Man kann doch beim Barbecue auch Falafel grillen oder mariniertes Gemüse, ohne neidisch auf das Nackensteak des Nachbarn zu schielen. Warum brauchen wir vegane Schnitzel, vegane Nürnberger, vegane Currywurst?

Neben dem Biomarkt-Sortiment werben mehr und mehr Restaurants mit dem geilen, weil verbotenen Kitzel des Fleischgenusses. Im heimischen Kiez etwa der “Vöner” (ein zugegeben sehr origineller Neologismus aus “vegan” und “Döner”), der ein breites Publikum anzuziehen scheint, gemessen an der Tapferkeit, mit der er sich im unerbitterlichen Konkurrenzkampf um die saufenden Simon-Dach-Touristen bislang schlägt. Oder der Hamburger Asiate “Loving Hut.” Der dortige Besuch stand von Anfang an sozusagen unter keinem guten Stern. Auf meinen Ärger über die fehlende Weinkarte (der Besitzer war, und das ist jetzt kein Scherz, Mitglied einer Art Sekte, möglicherweise der Sekte der “lachenden Hütte” oder “des lachenden Hutes”, weswegen er der Überzeugung war, nicht nur Fleisch und tierische Produkte seien eine Sünde, sondern auch Alkohol) folgte meine Überraschung abgesichts der Konsistenz meines fleischlosen Rindfleisches. Es wäre gelogen zu sagen, es schmeckte nicht – aber es schmeckte halt nicht nach Rindfleisch, gell. Als Krönung folgte die Moralpredigt, die zusammen mit der Rechnung über mich kam: Vom Menschen, der sich an Mutter Erde vergeht, von Kindern, die vegan erzogen werden und sich ganz prächtig entwicklen und der unbedingten Empfehlung, jetzt sofort mit dem bösen Fleischkonsum aufzuhören.

Bei meinem letzten Wien-Besuch verschlug es mich ins Restaurant “Vegetasia.” Man kann sagen, ich kam ein weiteres Mal zum veganen Essen wie die Maria zum Kinde – unvorbereitet, unschuldig, auch ungewollt. Lieber wäre ich zum Italiener. Aber gut, man müsse das mal probiert haben, asiatische Küche auf höchstem Niveau, mit allem, was dazu gehört, inklusive knusprig gebackener Ente in Gänsefüßchen und Hühnchen süß-sauer. Die Speisekarte wartete mit kuriosen Wortspielen wie “Knuspriges Schweine-Vleisch”, “Visch à la Vegetasia” und “Vaschiertes” auf (Hackfleisch nennt man in Österreich “Faschiertes”). Desweiteren entnahm ich ihr, dass “die vegetarischen Fleischersatzspeisen aus Sojaprodukten, Gemüseextrakten, Shiitake-Pilzen und Seetang dem ursprünglichen Geschmack und Aussehen nachempfunden sind” und: “Aus diesem Grund schreiben wir Visch und Vleisch mit dem ‘V’ unseres Logos” (das dachte ich mir schon). Nach langem Hin und Her (und, zugegeben, dem Einsatz meiner ganz hervorragenden neuen “Random-App”, die mir das Leben tagtäglich erträglicher macht) entschied ich mich für “Ji-Xiang-Ruyi”, was, wie mir die aufmerksame Bedienung erklärte, “vierfaches Glück” bedeutet. Ich kann es mir nur so erklären, dass mit dem vierfachen Glück die vier verschiedenen “Vleischsorten” gemeint waren, wobei ich da geschmacklich keinen Unterschied feststellen konnte, optisch auch nicht. Mein Nebensitzer war genauso wenig wie ich davon zu überzeugen, das, was er vor sich habe, schmecke “ganz genau wie normales Rind.” Noch dazu waren die Portionen winzig und das zu einem, euphemistisch gesagt, selbstbewussten Preis. Ich jedenfalls war nach dem Essen keineswegs vier Mal glücklicher als zuvor, eher halb hungrig und ziemlich schlecht gelaunt.

So hungrig, dass ich mir nach dem Restaurantbesuch beinahe eine sündige Käsekrainer am Würstelstand gekauft hätte. Später an diesem Abend dann die Entdeckung im Donau. Da war der Hunger längst verflogen und die Erinnerung an mein veganes Experiment so präsent, dass ich empört ausrief: “Niemals werde ich eine vegane Käsekrainer essen!” Dabei weiß man ja, wie Erinnerungen im Nachhinein nostalgisch verklärt werden, also, okay, vielleicht probiere ich sie doch. Dabei bin ich mir schon jetzt sicher, dass sie schmecken wird. Genauso sicher bin ich mir aber auch, dass sie nicht wie eine Käsekrainer schmecken wird. In einem solchen Fall wird es mir dann vielleicht ergehen wie meiner österreichischen Begleitung an meinem letzten “Donau”-Abend. Wenn er vegetarisch koche, meinte er, schmecke das meistens recht lecker. Danach habe er aber stets das Gefühl, etwas essen zu müssen.