An einen, der vorüber wischte

Der Straßenlärm betäubend zu mir drang.
In großer Trauer, schlank, von Schmerz gestrafft,
Schritt eine Frau vorbei, die mit der Hand gerafft,
Den Saum des Kleides hob, der glockig schwang.

Anmutig, wie gemeißelt war das Bein.
Und ich, erstarrt, wie außer mich gebracht,
Vom Himmel ihrer Augen, wo ein Sturm erwacht,
Sog Süße, die betört, und Lust, die tötet, ein.

Ein Blitz… dann Nacht! – Du Schöne, mir verloren,
Durch deren Blick ich jählings neu geboren,
Werd ich in Ewigkeit dich erst wiedersehn?

Woanders, weit von hier! zu spät! soll’s nie geschehn?
Dein Ziel ist mir und dir das meine unbekannt.
Dich hätte ich geliebt, und du hast es geahnt!

Wer hat das Ende der Romantik ausgerufen? Die Romantik ist so lebendig wie nie zuvor. Je zynischer die Leute sich geben, desto weicher wird ihr Herz. All die Großstadtmelancholiker suchen die ganze Zeit ihr Großstadtmelancholikergegenstück – und weil der technische Fortschritt dem Menschen dienen soll, gibt es immer neue digitale Helferlein. Vor nicht allzu langer Zeit schwappte das allgemeine Erregungslevel kurzzeitig über wegen einer App namens Bang your friends (wir berichteten). Dieser Tage erfährt sie ein Feintuning, heißt jetzt Down und kommt ein wenig seriöser daher. Dabei geht es nach wie vor darum, Facebookfreunde anhand ihrer bangability zu bewerten. Selbstverständlich greift die App auf das Facebookprofil zu (“wir werden niemals etwas in Deinem Namen veröffentlichen”). Congratulations, Mister Zuckerberg, wieder ein Stück näher an der absoluten Deutungshoheit.

Aber vergiss Down – hier kommt Tinder! Geschickt appeliert dessen offizielles Werbefilmchen mit seiner Mischung aus 2014er-Chic und 1970s-Retrograde an die zeitgenössische Popästhetik. Ausnahmslos alle Tinder-Nutzer sind jung (Mitte, Ende 20) und auf total individuelle Art attraktiv und stilsicher. Ethnische Gerechtigkeit wird gewahrt durch eine Quote von schwarzen, asiatischen und südamerikanischen Beteiligten. Wenn es nicht Nacht ist, dann scheint die Sonne. Die Tinder-Welt ist das hedonistische Utopia, ein digitales Coby County der Facebookgeneration. Weil sich alle Freundeskreise so gut matchen, muss man natürlich genau da ansetzen mit der Partnervermittlung. Denn, zieht man die Farbfilterhipness ab, ist Tinder genau das: Eine Kuppelbörse.

Auf eine mehrwöchige Inkubationsphase, in der ich sorgfältig das Für und Wider eines Selbsterfahrungsversuchs abwog, installiere ich die verdammte App schließlich doch. Zunächst generiert Tinder ein Profil, bestehend aus Vorname, Alter, ein paar Fotos, den Interessen und likes und den Freunden, alles von Facebook übernommen. Anhand eines undurchsichtigen Algorithmus schlägt Tinder einem dann der sexuellen Vorliebe  entsprechend Personen vor, die sich in der Nähe befinden. Frei nach dem Prinzip what you see is what you get steht ein Kreuz für nein, ein Herz für ja. Vergeben zwei Personen aneinander ein Herz, kommt es zum match. Es ist eine idiotensichere Angelegenheit – außer man wischt zu schnell, denn, aufgepasst, es gibt kein Zurück! Ich sehe schon die Vermisstenanzeigen vor mir, “Liebe Andrea, ich hab Dich zu schnell weggewischt, dabei hatten wir siebzehn gemeinsame Interessen! Bitte melde Dich!”

Auch nach mehreren Anläufen ist die Ausbeute verhältnismäßig mager, jedenfalls gemessen an der Anzahl ansehnlicher Exemplare Mensch, die jeden Tag in den Straßen der eigenen Stadt unterwegs ist. Erstaunlich viele U-20-Boys, von denen wiederum erstaunlich viele sehr freizügige Fotos präsentieren. Das deckt sich mit meiner Vermutung, wonach die Generation der digital natives erstens kein Problem mehr mit dem Anachronismus “Privatsphäre” hat und zweitens das Selbstoptimierungsdiktat rundum verinnerlicht hat – die Männer mit ihren Eightpacks und Eiweißdiäten noch mehr als die Frauen (welch dunkle Stunde der Gleichberechtigung). Überhaupt kann der Kunstgeschichtler beim Durchsehen der Fotos kaum an sich halten, will er doch sofort eine Bildanalyse durchführen. Fast keine Bildchen von erregten Geschlechtsteilen, dafür alles rund um Sport und Outdoor (siehe oben), Passfotos für die Bewerbung der Sparkassenfilialleitung, Männer vor Parkuhren, Männer mit Katzenbabies (come on) und ein Selfie vor dem Berliner Holocaust-Denkmal (hatten wir das nicht geklärt?).

Es wäre anzunehmen, dass durch Tinder der hemmungslosen Daterei Tür und Tor geöffnet ist, schließlich entfällt die Gefahr einer Abfuhr. Falsch gedacht! Bezeichnenderweise tritt das System nach einem match nicht weiter in Aktion. Es braucht also immer noch den ersten Schritt der Kontaktaufnahme. In meinem Fall passiert nichts, trotz pulsierender Herzen schweigen meine Versuchskaninchen und ich uns an. Möglicherweise bricht das Unbehagen der Geschlechter doch wieder durch, glauben die Frauen noch immer, er müsse den ersten Schritt machen (und so das unromatische Kennenlernen rückwirkend rehabilitieren), während die Männer auf Emanzipation pochen oder sich schlichtweg nicht trauen.

Vor gefühlt hundert Jahren schockte MTV mit einer Datingshow namens “Next”, wo Kandidaten unbarmherzig für Fehltritte abserviert wurden, einzig mit Hilfe des Idioms next, nach dem Motto: “Ich kenn Dich nicht, aber Du langweilst mich jetzt schon.” Heute muss man der anderen Person nicht mal mehr in die Augen schauen, es reicht, über das Display zu wischen. Auf die Wischgeste können sich alle einigen, von der Tagesschaumoderatorin, die auf dem Tablet die neuesten Zuschauerprognosen checkt, über Herrn Müller, der so seinen halben Haushalt bedient. An die Stelle des umständlichen Verbalisierens (“next”)  tritt eine minimal-beiläufige Handbewegung (“x”). Dabei kitzelt der stete Flow der Körper die Sucht nach dem immer Neuen. Tinder ist ein Katalysator für das allgemeine Aufmerksamkeitsdefizit, eine Spielerei für den kleinen Hunger zwischendurch.

Der deutsche Autor und ehemalige Zeit-Redakteur Sven Hillenkamp beklagt in “Das Ende der Liebe” die zunehmende Bindungsunfähigkeit unserer Gesellschaft. Niemals sei es so einfach gewesen, sich zu verlieben, es gebe keine Klassenschranken mehr, keine unüberwindbaren Distanzen, keine Vernunftehen, keine gesellschaftlichen Stigmata hinsichtlich der Partnerwahl. Nie war die Liebe so frei – und das sei ihr Verhängnis. Denn einerseits, so Hillenkamp, braucht sie Hindernisse, die sie überwinden kann, um ihren Wert performativ herzustellen. Andererseits bedeute die Unendlichkeit potentieller Partner ein Gefühl andauernder Unzufriedenheit, denn irgendwo da draußen gibt es vielleicht jemanden, der besser zu einem passt. “Je mehr Partnermöglichkeiten und -alternativen existieren, umso mehr Menschen wollen ihre Suche niemals einstellen.”

Das verdammte globale Dorf hat alles kaputtgemacht. Tinder bedient diesen Status Quo in doppelter Weise. Es befriedigt das Verlangen, neue potentielle Partner zu entdecken und sorgt gleichzeitig dafür, dass die Suche niemals endet, denn schon der übernächste Single könnte ein match sein. Single? Auch dafür ist Tinder prädestiniert: Umstandloses Fremdgehen zu ermöglichen durch ein schnelles und weitgehend anonymes Zusammenfinden zwecks reiner Triebbefriedigung nach dem Vorbild des unter homosexuellen Zeitgenossen schon lange etablierten Portals “Gay Romeo.” “Das Ende der Liebe” erschien 2009. Es ist, als hätte Hillenkamp in die Zukunft geblickt: “Das Wesen der Großstadt ist nun nicht mehr die Anonymität, sondern die allgegenwärtige Möglichkeit der Intimität.”

Vieles spricht dafür, dass die gesellschaftlichen Umstände schuld sind an der Paradoxie des unbedingten Liebeswunsches bei gleichzeitigem Bindungsunwillen, der letztlich zur kollektiven Vereinzelung führt. Das Internet lockt mit dem Versprechen von universaler Verfügbarkeit. Waren, Körper, Körperbilder, alles da. Wo bleibt da der Reiz des Augenblicks? Des Verpassens? “Die Menschen beginnen, doppelt, dreifach, zigfach zu sehen”, schreibt Hillenkamp dazu. Tinder ist da nur die Spitze des Eisbergs, ein Werkzeug für Menschen in ständiger Alarmbereitschaft. Wer immer auf der Suche ist, der wird nicht finden.

“Die Menschen laufen durch die Straßen, sehen die Menge der Menschen und denken: ‘Was für ein Zufall!’ Sie nehmen einen aus der Menge in den Blick und denken: Der könnte es sein. Plötzlich sind sie sich sicher. Dann geht der Angeblickte vorüber, verschwindet in der Menge.” So beschreibt Hillenkamp den Prototyp des “freien Menschen”, der an seiner Freiheit zugrunde geht. Aber ist daran wirklich der Zeitgeist schuld? Erinnern wir uns an das eingangs zitierte Gedicht. Ein Mann bemerkt eine Frau im Strom der Großstadt. Er ist gefesselt, außer sich vor Verlangen und für den Bruchteil eines Moments projiziert er all seine Sehnsüchte auf sie. It’s a match! Dann geht sie weiter, verschwindet so plötzlich wie sie gekommen ist. Was für den Mann nicht allzu schlimm ist, denn schon die nächste könnte die Richtige sein. Geschrieben hat das Gedicht der französische Dichter Charles Baudelaire, ein Getriebener wie wir. Das war 1860.