Arbeit Liebe Hoffnung

Der von den Nationalsozialisten hingerichtete Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer verfasste kurz vor seinem Tod ein Gedicht mit den Zeilen “Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag.” Lesen wir das, fragen wir uns: Wo sind diese guten Mächte? Finden wir sie? Finden sie uns? Worauf richten Menschen im Angesicht des Todes ihre Hoffnung?

Wolfgang Herrndorf, geboren 1965, erhielt im Alter von 45 Jahren die Diagnose Hirnkrebs. Je länger man als gesunder Mensch darüber nachdenkt, desto sicherer ist man, dass es kaum ein grausameres Schicksal geben kann. Zur Gewissheit, in wenigen Jahren sterben zu müssen, tritt der zu erwartende Krankheitsverlauf, die Aussicht auf den allmählichen Verlust der Sprache, der Motorik und schließlich des Bewusstseins. Wenn sich der Mensch durch ein Bewusstsein von sich selbst definiert, erlischt mit dem Ende dieses Bewusstseins auch das Ich. Wer sich seiner Umwelt nicht mehr mitteilen kann, hört auf zu existieren, gerade als Schriftsteller. Fast bis zum Schluss kämpft Herrndorf gegen diesen Bewusstseinsverlust, indem er scheibt; zwei angefangene Romane mit den Titeln “Tschick” und “Sand” stellt er fertig, ein Fragment, “Isa”, bleibt zurück. Nebenbei führt er ein Blog unter dem Titel  “Arbeit & Struktur”, das nun in Buchform vorliegt – ein dem Internet abgetrotzter Kampf ums Überleben.

Dieses Internet mit seinem unbegrenzten Wissen (als Gegenstück zur begrenzten Romanhandlung) ist Fluch und Segen zugleich. “Rumgegoogelt und eine Studie gefunden, die einen Zusammenhang zwischen Tumorvolumen und Überlebenszeit postuliert, die mich sofort in Panik geraten ließ. Den ganzen Nachmittag gegoogelt, bis ich die gegenteilige Studie gefunden hatte.” Nach seiner Diagnose klickt Herrndorf sich durch Wikipedia-Artikel, schöpft Hoffnung durch in Deutschland nicht zugelassene Medikamente (die ihm die Krankenkasse paradoxerweise nach seinem Tod bewilligt) und freut sich, wenn er der Sterbestatistik wieder ein Schnippchen geschlagen hat. Was bleibt, ist das Vertrauen in die Ärzte, die performative Medizin in Form von ohrenbetäubend ratternden MRT-Geräten und die mürbe Erkenntnis: “Thou shalt not google.”

Schaudernd begleitet der Leser Herrndorfs allmählichen körperlichen und geistigen Verfall, der in so krassem Gegensatz zu seinem unbedingten Lebenswillen steht. Bis ins Detail rekonstruiert der Autor seine manischen Zustände, eine Folge der ersten Operation, wo er als Pinguin verkleidet tagelang durch Berlin irrte. Mit größtmöglicher Distanz zu seinem Pinguin-Ich schildert er seine Überzeugung, das Rätsel der Welt gelöst zu haben, seinen Schlafentzug, seinen Größenwahn (somit scheint die Frage, ob jemand weiß, dass er verrückt ist, geklärt: Er weiß es nicht.). Immerhin, so Herrndorfs lakonische Bemerkung, rangiere er im Vergleich zu den anderen Bekloppten in Berlin-Mitte “lediglich im Mittelfeld.”

Leid ist: Nicht ausweichen können vor der Schönheit der Welt im Angesicht des eigenen nahen Todes. Wenn der Himmel über dem Wedding aussieht wie ein Gemälde von Ruisdael, wenn Kinder Kastanienmännchen basteln, wenn der Frühling kommt. Am grausamsten lesen sich jene Feststellungen, deren Simplizität in jedem Wie-finde-ich-das-Glück-oder-findet-es-mich-Bestseller steckt und die wir doch so oft vergessen. Ein Jahr nach der Diagnose notiert Herrndorf: “Insgesamt vielleicht sogar ein bisschen glücklicher als früher, weil ich so lebe, wie ich immer hätte leben sollen. Und es nie getan habe, außer vielleicht als Kind.” Noch einen Monat vor seinem Ende lächelt der Todgeweihte an der Ampel zwei Fremde an, “kurz davor, ihnen mitzuteilen, wie groß mein Glück heute ist.” Die Banalität des Bösen hingegen steckt im Inneren eines Glückskeks, der behauptet: “Things will turn to the bright side” und in Gloria Gaynors “I will survive”, als Hintergrundgedudel im Wartezimmer.

“Man kann nicht leben ohne Hoffnung, schrieb ich hier vor einiger Zeit, ich habe mich geirrt. Es macht nur nicht so viel Spaß.” Herrndorfs Hoffnung stirbt nie ganz, eher ist sie ein Wachkomapatient. Mehr noch als Hoffnung rettet ihn die Arbeit, die gleichwohl mit Hoffnung verbunden ist, denn, anders als eine selbstreferenzielle Arbeit ohne Anfang und Ende ist der Roman auf ein Ziel hin konzipiert. In dem Moment, wo seine Lebensdauer zu gering ist, um ein weiteres Buch zu Ende zu bringen, gibt Herrndorf auf, woraufhin sich sein physischer Zustand sofort verschlechtert.

Das leere Zentrum von “Arbeit & Struktur” ist Herrndorfs Lebensgefährtin C. Wir wissen wenig von ihr, sie ist die einzige Person im Buch, deren Name ein Initial bleibt. Auch C. hat psychische Probleme, leidet unter Panikattacken, denen Herrndorf machtlos gegenüber steht. Mitten im langsamen Sterben ihres Freundes muss sie einen zweiten Verlust betrauern: “C.s Vater hat endlich aufgehört zu atmen. Über Wochen immer wieder haben C. und ihre Geschwister im Schichtdienst neben dem Bett auf dem Boden campiert.” Was C. leistet, scheint übermenschlich. Neben ihr fühlt sich der Kranke wie ein Mensch “und als sie geht: ein Schatten.” Sie ist es, die sich schützend zwischen Herrndorf und einen bissigen Schäferhund stellt, als ob der Tod einen Boten vorgeschickt hätte. Mit ihr vollzieht er Alltagsrituale als Brücken zur Realität, bestattet tote Libellen, kauft Johannisbeeren. Egal wie schlimm es ist: “In C’s Gegenwart aushaltbar. Immer wieder schöne Tage. Ich vergesse das immer. Ich habe es mir aufgeschrieben, um es nicht immer zu vergessen. Aber ich vergesse es immer.”

Es ist vor allem die Liebe zu dieser rätselhaften C., der einzigen Person, die Herrndorf bis zuletzt an seiner Seite wünscht, die Herrndorf neben dem Schreiben am Leben hält. Da er seinen Suizid von langer Hand plant, bleibt die Frage: Wann ist es genug? Wenn ein Brotmesser mit einer 35 cm langen Klinge neben der Wohnungstür hängt, aus Angst vor unangekündigten Kaffee-und-Kuchen-Besuchen? Wenn man den eigenen Eltern nicht mehr in die Augen schauen kann? Am 4. August 2013 vergisst Herrndorf C.’s Namen. Am 26. August erschießt er sich am Ufer des Berliner Hohenzollernkanals.

Anders als für Bonhoeffer ist für Herrndorf der Glaube an Gott kein Trost. Seine guten Mächte sind die ihn umgebenden Menschen. Freunde wie Holm Friebe, die Mitglieder der Hobbyfußballmannschaft, Kathrin Passig, deren Zynismus meist angebrachter scheint, als aufrichtiges, aber wirkungslose Mitleid. Und C.’s bedingungslose Liebe, eine Liebe wie in Hanekes “Amour.” Herrndorf hierzu: “C. geht es beschissen, mir geht es beschissen. Zusammen ist es okay.”