Sie sagt mir was, die sogenannte Neurose

Mein Verhältnis zu Sibylle Berg ist ein ambivalentes. Ein Buch von Sibylle Berg wertet jeden Gabentisch auf, ist im positiven Sinn anschlussfähig, eignet sich als Präsent für Mama gleichfalls wie für die beste Freundin und den gendertheoriegeplagten Freund (“ja, die Frauen, so sind sie”). Texten kann sie, die Frau Berg, wobei das Geschriebene nicht nur wahr ist, sondern auch schön: “Er machte beim Schlafen kleine Geräusche, die schöner waren als alle, die ich kannte, weil sie einer machte, den man mochte, und weil er doch leben musste, um Geräusche zu machen, die mir ein Zelt bauten in der Nacht.”

Anders als ihre Romane, gerät ihre Kolumne auf Spiegel Online oft wirr, wobei hier Nachsicht angebracht ist – weil es ein Wahnsinn ist, als fester Kolumnist aus intrinsischer oder extrinsischer Motivation heraus jede Woche die Welt in 4000 Zeichen zu erklären. Was Sibylle Bergs Theaterstücke betrifft: Bei den Autorentheatertagen des DT kam ein Stück namens “Hauptsache Arbeit!” zur Aufführung, das ich weder lustig noch inspirierend fand. Und dann war da noch jenes umfassend beworbene Event der Berliner Festspiele vergangenen Oktober. “Ein Tag mit Sibylle Berg” entpuppte sich als eitles Potpourri aus Lesungen von Berg-Kolumnen, Videoscreenings von Berg-Lieblingskunstwerken und einer Fahrstuhllesung von Berg-Gedichten. Im Foyer des Festspielhauses stand eine Box, in die jeder Besucher seine Frage an den Star des Abends einwerfen konnte. Auf der anschließenden “Großen Gala”, dem feierlichen Abschluss eines sehr proseccolastigen Sonntagnachmittags, wurden dann einige der Fragen von Frau Berg mehr oder weniger kooperativ beantwortet (meine Frage “Darf man einen Fuchspelz tragen, auch wenn man Füchse sehr gern hat?” wurde nicht vorgelesen). Ach ja, die Gala: Trotz der großartigen Helene Hegemann und Olli Dietrich, TV-Held aller TV-Abtinenzler, kam die Sache nicht recht in Schwung. Am Prosecco wird es nicht gelegen haben, eher am unbedingten Originalitätsanspruch. Einmal bin ich kurz weggenickt. Dabei war ich so gespannt, Sibylle Berg, diese Dramaqueen der deutschsprachigen Literaturszene, endlich einmal live zu erleben. Ganz in Schwarz gekleidet huschte sie auf der Bühne herum, ein zierliches Wesen in hohen Stiefeln, mit Turmfrisur und scharfen Gesichtszügen, so scharf wie auf den Fotos. Sehr angenehme Stimme.

Diese Stimme spricht auf mehr oder weniger deutliche Weise aus allen Berg-Texten auf eine spitze, zweifellos weibliche Art. Es schwankt lediglich der Grad ihrer Neurotik. Im Theaterstück “Es sagt mir nichts, das sogenannte Draußen”, das Sebastian Nübling am Maxim Gorki inszeniert, verteilt diese Stimme ihren ganzen angeknacksten Charme auf vier junge Frauen. Vier supercoole Frauen, die in knapp eineinhalb Stunden das Kleinklein der weiblichen Psyche sezieren. Aus der vermeintlich sicheren Warte ihrer (wahrscheinlich der Gentrifizierung wegen überteuerten) Wohnung hadert diese multiple Mädchen-Frau (Britney Spears: “I’m not a girl, not yet a woman”) mit dem System, das sie umgibt und gefangen hält, dessen Perfidie sie durchschaut und ihm doch nicht entkommen kann. Gelegentlich richtet sich ihre Anklage gegen konkrete Personen: Der unsichtbare, am Boden liegende Paul, bei dem es sich möglicherweise um den abtrünnigen Vater handelt, dessen Leerstelle, die sein Allerweltsname bedeutet, gekonnt den Werbeslogan “Paul? Wer ist eigentlich Paul?” in Erinnerung ruft. Die Notlösungsfreundin, die man anruft, wenn alle anderen keine Zeit haben, deren Begeisterung für die so neumodische wie lächerliche Aktivität Zumba (“lateinamerikanische Musik strahlt so eine Lebensfreude aus”) sich in ekstatischen Körperzuckungen und “Ich spüre mich!”-Rufen entlädt.

Das Leben besteht sowieso nur aus “spüren”, also shoppen und ficken, wobei letzteres für Frauen von Anfang an problembehaftet ist, schließlich wollen die Erwartungen von einem halben Jahrhundert Popkultur erfüllt werden. Ein Bekenntnis wie das der Sprecherin, so wie in den Liedern sei Sex nie gewesen wird begleitet von einem live eingesungenen Medley der schönsten Liebeslügen (“Mit Dir steht die Zeit still”, “When I see your face/ there’s not a thing that I would change/ ‘Cause girl you’re amazing/ just the way you are.”). Frauen müssen viel Wasser trinken, mindestens drei Liter am Tag, ein Imperativ, dem die vier auf der Bühne fontänenspuckend und senkrecht die PET-Flasche ansetzend Folge leisten. Frauen müssen aber auch bunte Cocktails trinken, sich stets sorgsam an der Grenze zu betrunken bewegend. Beschwipst sein ist super für Frauen, denn dann wirkt der ganze Beauty-Fashion-Lifestylemüll gleich viel sinnstiftender und die wirklich wichtigen Fragenverschwinden im Strudel des Sektglases. Solange wir das nicht erkennen, “solange haben wir den Sieg nicht verdient in der Schlacht.”

Über allem liegt, wie könnte es anders sein, der bittersüße Filter der Ironie. Dazwischen blitzen immer mal wieder kleine Gemeinheiten auf. Etwa, wenn die Rede auf die Mädchengang kommt, die, ausgestattet mit Morgenstern und einem unbedingten Willen zur Zerstörung, des Nachts die Straßen aufmischt. Da werden in schönster Riot Grrrl-Manier Jungs zu Boden geworfen und es wird ordentlich nachgetreten. Jene Schädel platzen an Bordsteinkante entlarven sich doch in ihrer grotesken Überzeichnung nur als Rachefantasien einer Hilflosen. Schon im nächsten Moment vergeht die Sprecherin vor Sehnsucht nach ihrer Liebsten (dass homosexuelles Verlangen so selbstverständlich heterosexuelles ersetzt, sollte der Selbstverständlichkeit halber keine Erwähnung wert sein und ist es doch: Bravo!) – das Acapella-Geräusch der eingehenden SMS ist Klagelied und Ode an die Freude zugleich.

Sibylle Berg ist die Putzfee im weiblichen Neurosenhaushalt. Mit ihren scharfen Worten wirbelt sie den Schmutz auf, erinnert an Marotten, die wir lieber unter den Teppich gekehrt wüssten und lässt die Staubpartikel tanzen, dass es nur so flimmert. Die Stimme in “Es sagt mir nichts, das sogenannte Draußen” schwankt auf dem schmalen Grad zur Manie: „Ich kann es manchmal nicht erwarten, alt zu werden, dann hört vielleicht die Blödheit auf.”

“Wir sind heute so, wie es von uns von der imaginären Gesellschaft erwartet wird: Schubessesen, reinlcih, niedlich, sauber.”

In ihrem Mäandern zwischen Abscheu und Hingabe an den Konsumzirkus steht Sibylle Berg nicht allein da: Marina Abramovic, die in meiner Vorstellung wie kaum eine andere Künstlerin frei ist von Besitzansprüchen (als Beweis dient mindestens ihre !!!jährige, bargeldlose  VW-Tour mit ihrem damaligen Lebensgefährten Ulai, auf der sie sich mit Schafe scheren und Pullis häkeln das Nötigste ertauschten), hat ihr Preisgeld !!!!  in die solide Anlage eines !!! investiert. Textgöttin Elfriede Jelinek verteufelt in „Die Stadt. Die Straße. Der Überfall“ die Münchner Maximilianstraße stellvertretend für alle Designerhandtaschenübel dieser Welt und bekennt sich gleichzeitig zu ihrer Liebe für Haute Couture. Wie eifrig Frau Berg an der Fortsetzung ihrer Schuhsammlung arbeitet, ist mir nicht bekannt, aber die Stiefel, die sie im Haus der Berliner Festspiele trug, haben Eindruck gemacht.

Ist Sibylle Berg Feministin? Ja, und zwar auf die denkbar sympathischste Art: Mit viel Selbstironie. Indem sie weibliche Marotten benennt, ohne sich selbst davon freizusprechen, entkräftet sie ihre eigene Position und umarmt zugleich alle Frauen dieser Welt. Hey, ich finde die Versprechen der Kosmetikindustrie genauso scheiße wie ihr, aber gestern hat der Kauf eines Chanelrouges ein mittelschweres Beben in mir ausgelöst.

„Ach Du!“ möchte man der multiplen Weiblichkeit auf der Bühne des Gorkis zurufen. Klapp den Bildschirm runter, auf dass der Apfel erlische, und geh nach draußen. Erobere die Straße, tanze Zumba oder nicht. Hauptsache Du verkörperst nicht das jahrhundertealte Motiv vom Mädchen, das am Fenster sitzt und die Welt nur von außen betrachtet. Es ist dann doch eher so, dass man vor dem Pc sitzenbleibt und die Stunden runterzählt bis zum nächsten Asos-Sale. Das Leben findet derweil woanders statt. In diesem Auseinanderklaffen von Anspruch und Wirklichkeit ist Sibylle Berg ein so sympathisches wie genuin postmodernes Vorbild einer coolen Frau in dieser unserer völlig durchgeknallten Welt. Geteilte Neurosen sind halbe Neurosen.