It’s economy, stupid!

So ein bisschen Banken-Bashing kann nicht schaden. Ist doch das Thema längst an den Niederungen gesamtdeutscher Stammtische angekommen: Jeder Quartaltrinker meint, sich differenziert zum Schuldenstand Europas äußern zu können, trotz eventueller Schwierigkeiten, nach dem siebten Bier noch die Striche auf dem Bierdeckel vor sich zu überblicken. Derweil wendet sich die öffentliche Debatte anderen, größeren Dingen zu: “Schwäbischen Zeitungs”-Abos für Berliner Krawallpolitiker, Literaturverbesserungsmaßnahmen zum Schutz moralischer Integrität, Herrenwitze statt Habenichtse. Occupy ist abgebrannt, Finanzkrise, das ist doch schon wieder ein alter Hut. Wenn neue Hüte alt werden, beginnt deren ästhetische Vewertung. Elfriede Jelinek, Avantgarde wie immer, haute der Theaterwelt bereits 2009 ihre “Kontrakte des Kaufmanns” um die Ohren. Leider hatte ich das Pech, meine erste Inszenierung dieses ganz passablen Stücks in der Schaubühne zu erleben, ein Abend, schlimmer als alle Kreditkartenabrechnungen dieser Welt. Aktuell zeigen das Schauspiel Stuttgart und das DT Berlin Andres Veiels “Himbeerreich.” Noble Absichten können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die theatrale Form nur zweite Wahl war, denn eigentlich wollte der Regisseur einen Dokumentarfilm drehen, blöd nur, dass seine Interviewpartner, mächtige Männer im gläsernen Bankenturm, darauf keine Lust hatten. So wähnte man sich einmal mehr in einem als Theater getarnten Politikgrundkursseminar. Und zweifelte an der ästhetischen Verwertbarkeit von Zeitgeschehen: Braucht es die historische Distanz, um Ereignisse vom Lehrstückverdacht zu befreien? Also: Finanzkrise, später, bitte nicht noch ein Statement zur wirtschaftlichen Schieflage. NEXT.

Aber dann! “Johann Holtrop”, Roman. Erschienen bereits im Herbst vergangenen Jahres. Autor: Rainald Goetz. PUNKT. Zugegeben: Vielleicht hätte ich das Buch nicht ganz oben auf meinen Weihnachtswunschzettel gesetzt, wenn sein Autor nicht der unangefochtene Schreibgott dieses Landes wäre. “Johann Holtrop” als buchgewordener Wirtschaftsteil einer Tageszeitung? Aufstieg und Fall eines Bankiers? Ein Drama über geldgeile Anzugträger und männliche Megalomanie?  Über dreihundert Seiten vollgepackt mit Wirtschaftsvokabular, “Chief Counsel Compliance”, “Good Corporate Governance”, “akkumulatives Wachstum seperater Einheiten”? NEXT…? Aber dann. Erst fühlte ich mich ein wenig wie mit dieser Kinder-ZEIT-Kolumne, die kleinen Lesern (und jenen, die auch nichts davon verstehen, es aber nie zugeben würden) die Welt erklärt. Was ist ein Derivat? Was macht die EZB und warum macht sie das? Warum gibt es Menschen, die mit dem Geld anderer Leute herumhantieren, das eigentlich nicht existiert? Bevor Fragen dieser Art abschließend geklärt sind, rollen schon die ersten Angestelltenköpfe und der Handlungsverlauf nimmt so sehr gefangen, wie man sich an seiner sprachlichen Schönheit berauscht, bei gleichzeitiger punktgenauer Wahrhaftigkeit, mit der Goetz seine Figuren verlebendigt, so brillant, dass man nicht anders kann, als immer den Stift bereit zu halten, um die allergelungensten Textstellen zu markieren: “… zuletzt hatte Holtrop als CEO einen Stab von fünfzehn Leuten unter sich, die alle nichts anderes machten, als hinter ihm her aufzuräumen, die von ihm ungehemmt wirr angestoßenen Initiativen zu verfolgen, zu sortieren, abzuschließen oder abzubrechen, und anstatt an sich selbst zu arbeiten und seine Geistesverschlampung zu bekämpfen, hatte Holtrop sich, natürlich wieder auf die selbstverständlichste Art, ganz das von seiner Hektik hervorgerufene Außenbild zu eigen gemacht, und so sah er sich selbst als Anreger, Kreativkraftwerk, Genie der unkonventionellen Impulse, nicht als den verkommenen Schlamper, der er in Wirklichkeit eben auch war.” Holtrop ist ein sehr klassischer Anti-Held. Steiler Aufstieg, jäher Fall. Ein Egoshooter, eine Art Werther reloaded. Es ist schon gewagt, seinen Protagonisten zum Ende hin mal eben auf die Bahngleise springen zu lassen, da so ein bisschen entlangjoggend, das Schicksal herausfordernd, umknickend und ihn dann glorreich vom Regionalexpress plattfahren zu lassen. “Das war ihr Leben, Johann Holtrop! Was sagen Sie dazu?”

Wahnwitzig finden wir dieses “Kreativkraftwerk” Holtrop, Vorstandvorsitzender der fiktiven Assperg-AG, diesen gelackten BWL-Heini, der, das ist der eigentliche Witz der Geschichte, kaum mehr Ahnung hat als der Leser auf Kinder-ZEIT-Niveau. Holtrop, der sein Nicht-Wissen so brillant durch sein Alphatiergehabe und die heiße Luft kaschiert, die er sekündlich in die Vorstandsetage bläst. Stur hat er seinen Lebenslaufoptimierungsplan durchgezogen, inklusive Promotionsstipendium, relevanter Berater- und Assistenzstellen und Verfeinerung des Rotweingeschmacks. Aus Sicht der kritisch-postmodernen Generation ist er das Feindbild, einer von denen, die nicht nach dem Abitur aus Selbstfindungsgründen Work and Travel in Australien machen, aus Furcht vor künftigen Assessment-Centern und der Frage nach der Lücke im Lebenslauf. Ach Holtrop, Du Kriecher vor dem Kapitalistenherrn! Stehst jeden Tag um fünf Uhr auf, setzt Dich in Deinen Fitnesskeller, siehst Nachrichten, lässt Dich ins 260 km entfernte Büro chauffieren, von Privatchauffeur Tarek, weil der sich nicht um Höchstgeschwindigkeiten schert. Durchmisst herrschaftlich Dein Büro (“wütend schritt ich voran”), verachtest Deine Sekretärin für ihre ernst gemeinte Frage nach Deinem Befinden. Fürchtest den Flugmodus Deines Smartphones wie den Teufel, vergisst vor dem Hotelzimmerspiegel die Affäre Deiner Frau und die Namen Deiner Kinder erfahren wir nie. Großkotzig verfasst Du das Exposé Deiner eigenen Biografie, ekelhaft selbstgefällig wickelst Du Wirtschaftsjournalistinnen um den Finger (Brüderle, you name it). Ohne Deine verschreibungspflichtigen Leistungspillen bist Du nichts.

Das Erfreuliche an diesem Roman ist, dass er seine Intention an keiner Stelle offen legt. Der ganze Wahnsinn der im Buch versammelten Hamsterrad-Existenzen vermittelt sich implizit, rein sprachlich und ereignishaft. Es ist gewiss Goetz’ politischstes Buch und da ist der Grad zum Agitprop bekanntlich schmal. Bei einem derart aufklärerischen Gegenstand meint man schon die Occupy-Zelte in der Ferne zu sehen, so affirmativ spitzt sich die Handlung zum Totalzusammenbruch zu, so offensichtlich ist die Schuldfrage am Niedergang der Giersubjekte geklärt. Anders jedoch als bei vielen der jüngsten ästhetischen Finanzkrisen-Adaptionen schwingt der Autor keine Moralkeule. Nie ist die Rede vom bösen K-Wort. Im Gegenteil, es drückt nicht und hat Platz nach oben in Richtung herrlichster Sprachpoesie: Von “Momenten der Seele” ist da die Rede, ausgelöst durch eine Überlandsfahrt in der ostdeutschen Provinz, von “extrem fahl flutendem Licht”, dem “fundamental Orkushaften der Welt” und der Frage, wann man zuletzt in den Himmel sah.

Gut, dass Goetz großräumig die Zone der “political correctness” umgeht und keine Abziehbilder, sondern plastische Akteure erschafft. Jelineks Protagonisten bleiben abstrakte Sprechaktvollzieher, die Bewohner des “Himbeerreichs” benehmen sich wie die kleinen Stimmen im Hinterkopf, schablonenhaft und nervig in ihrem Aufklärerfuror, an das Gewissen des ebenfalls in der ökonomischen Logik gefangenen Zuschauers appellierend. Das schmeckt nach Sozialtümelei wie die gesellschaftlichen Zusammenkünfte der Unsympathin Kate Assperg, über die es in “Johann Holtrop” heißt: “Aus der Firma wurden als Sondergäste jedesmal auch Hilfsarbeiter, Packerinnen und LKW-Fahrer dazugebeten, das gefühllos Volkserzieherische daran hatte einen Hang ins Plumpe, Asoziale (…).” Nicht so bei Goetz. Alles, was einem die Gesinnungskunst so unerträglich macht – da gehen wir ganz mit Adorno konform – wird sauber ausgespart. Es grüßt Rainald Goetz, wie er ist, war und hoffentlich immer sein wird: BEST.