Warum Schreiben immer ein bisschen ist wie Steine rollen

Erinnert sich jemand an Sisyphos? Ich meine nicht den Club in Ost-Berlin (der ja auch ein bisschen wie Hochkultur ist), sondern den antiken Mythos und die Aufbereitung desselben durch Camus. Die schöne Geschichte vom Mann, der dazu verdammt ist, bis in alle Ewigkeit einen Stein den Berg hinauf zu rollen, auf dass dieser am Ende des Tages wieder hinunterrolle und das Spiel von Neuem beginne, lässt sich ganz wunderbar als Metapher für alles mögliche gebrauchen. Das Leben an sich (je nachdem, wie fatalistisch man das sehen mag), das Leben als Student, die Mühlen der deutschen Bürokratie – oder eben das Leben als Schreibender.

Warum schreiben wir? Oft ist von einer Art Selbsttherapie die Rede, daher auch die Idee des Tagebuchs. Nicht immer ist es eine gute Idee, Texte solcher Art (nennen wir sie: Betroffenheitsprosa) auch zu veröffentlichen. Nicht immer möchten andere Menschen den persönlichen Seelenmüll in literarisch aufbereiteter Form präsentiert bekommen. Es soll Leute geben, die müssen schreiben, für die ist die bloße Schreibarbeit Arbeit am Selbst, die sie brauchen wie die Luft zum Atmen. Früher bin ich solchen Aussagen mit Ehrfurcht begegnet. Heute stehe ich dem etwas kritischer gegenüber, was nicht heißen soll, dass es solche Menschen nicht gibt. Einen davon habe ich kennengelernt.

Sie, ein Mädchen aus, sagen wir, nicht Berlin, traf einen Mann, wesentlich älter als sie, nicht besonders attraktiv, aber anziehend (seines Intellekts und seines rhetorischen Geschicks wegen) und dieser Mann brachte sie zum Schreiben und verliebte sich nebenbei in sie. Er, das erfuhr sie erst nach einer Zeit des regen Austausches (ich stelle mir die Beiden vor wie Sartre und Beauvoir), trauerte insgeheim um seine verstorbene Freundin und glaubte mit ihr, also dem Mädchen, das jetzt auch mit dem Schreiben angefangen hatte, nicht nur einen Ersatz für seine Geliebte, sondern in ihr eine Art Reinkarnation gefunden zu haben. Das war so absurd wie es sich liest und dass so etwas gefährlich ist, liegt auf der Hand. Wie gefährlich, sieht man daran, dass sich das Mädchen in einem seiner folgenden Bücher wiederfand und zwar aufgrund eines spezifischen Körpermerkmales so eindeutig beschrieben, dass eine Verwechslung ausgeschlossen war. Es folgten: Tränen, Streit und schließlich der Bruch. Und ohne dass sie es wollte, unbewusst, fing sie an, über ihn zu schreiben. Weil, wie sie sagt, es jemanden geben müsse, der über ihn schreibt, er, der nicht nur sie benutzt hatte, sondern viele andere, wenn auch nicht reell, so doch fiktiv, in Textform – weil er wolle, dass endlich jemand über ihn schreibe und auch verdient habe, im Guten wie im Schlechten. So habe ich in ihrem Zimmer Stapel von Papier gesehen, die voll waren mit einzelnen Worten ohne Zusammenhang, weil sie so erst das Schreiben gelernt habe: Von Anfang an. Dann folgten Sätze, später Abschnitte und ganze Kapitel. Der Inhalt war immer der Gleiche.

Ihre Geschichte klingt zu literarisch, um nicht erfunden zu sein, aber ich versichere, dass sie wahr ist, dass sie das Leben selbst geschrieben hat, sozusagen. Ich kann mir keinen plausibleren Grund vorstellen, warum Schreiben sein muss: Nicht nur seine Berechtigung hat, sondern seine Dringlichkeit. Sie, also das Mädchen, gehört also, wage ich zu behaupten, zu den wenigen, die sich hinsetzen und losschreiben und zwar, wenn es sein muss, den ganzen Tag, das heißt, eben nicht, wenn es sein muss, sondern ohne extrinsische Motivation, denn es schreibt sozusagen aus ihnen heraus.

Dann bin ich aber auch anderen begegnet, die ehrlich genug waren, zuzugeben, dass Schreiben für sie eine Qual ist. Und das, obwohl sie doch damit ihr täglich Brot verdienen! Die zugaben, es kaum ertragen zu können, sich hinzusetzen und endlich, endlich mit dem neuen Text anzufangen. Woher kommt das? Dass eine Sache, die ihrem Wesen nach Freude bereitet, zum Stein wird, der breit und unverrückbar auf dem Weg zwischen einem selbst und dem guten Leben liegt? Sascha Lobo würde sagen: In dem Moment, wo etwas die Bezeichnung “Arbeit” erhält, verliert es nicht nur seinen Reiz, sondern ihm haftet von nun an der Charakter der Pflicht an und weil Pflicht das Gegenteil von Muße ist, stehen selbst erfreulichste Tätigkeiten plötzlich auf der verhassten To-Do-Liste. Was folgt sind unterschiedlich stark ausgepräfte Formen der Prokrastination, ein hochinteressantes Phänomen, dem an dieser Stelle unbedingt einmal mehr Aufmerksamkeit gewürdigt werden sollte –

Und selbst große Köpfe wie Rainald Goetz wissen von der Unmöglichkeit der permanenten Inspiration zu berichten. Man nehme Dekonspiratione, den letzten Band seiner großartigen Serie Heute morgen, der sich im Grunde genommen nur mit dem Horror einer Deadline beschäftigt. Die ganze Geschichte drum herum (die, nebenbei bemerkt, trotzdem nur unwesentlich weniger unterhaltsam ist als etwa Rave oder Abfall für Alle) ist wenig mehr als eine schöne Hülle. Verpackungskünstler Rainald beweist, dass trotz eines Status als Schreibgott die göttliche Eingebung ab und an auf sich warten lässt (Zugegeben: Diese Haltung wechselt sich bei ihm ab mit jener des Impulsivschreibers, in der sich Goetz, der vor seiner Zeit als Autor in einer Psychatrie arbeitete, leider meistens besser gefällt.).

Und was ist mit den Milchmädchenbloggern? Mary Scherpe, die Mutter aller Modeblogs, bezeichnet mit diesem Begriff, den sie durchaus abwertendend meint, all jene Autoren (und wohl überwiegend Autorinnen), die wahre Schreibleidenschaft vermissen lassen und nur bloggen, um des Bloggens Willen. Die Folge: “Kein Geld, kein Inhalt – nur ein schwerer Kopf.” Man mag sich vorstellen, wie traurig und wütend mich dieses Netzphänomen macht. Nicht nur, weil hier mein eigener Name, wenn man so will (und so will ich es!), in gewisser Weise diffamiert wird – an dieser Stelle: Die Namensfindung des Milchmädchenmonologs orientiert sich in keinster Weise an Scherpes Neologismus, sondern ist aus Eigeninitiative seiner Schöpferin Eva Perla entstanden – sondern weil Leute wie Mary Scherpe sich das Recht nehmen, die Motivation, die hinter der Textfindung des Einzelnen steckt, als so und so zu definieren. Auch wenn sie sich in ihrer Kritik auf Formen der Werbung und Marketingstrategien bezieht, führt das dazu, dass man sich als Schreibende/r fragt, wie viel Sinn das alles macht. Und weiter, dass man im Schlimmsten Fall ganz aufhört mit dem Schreiben, denn Blogs gibt es ja wie Sand am Meer und andere haben wahrscheinlich Wichtigeres zu sagen.

Meine Botschaft an all die Christophers, Elenas, Julians da draußen: Bitte nicht den Mut verlieren. Schreiben kann weh tun und alles von Einem verlangen und wenn der Stein am Ende des Tages wieder nach unten rollt, was dann? Wie wäre es damit: Vielleicht braucht es gerade das, das Aufraffen und den Kampf gegen den Stein, um zu sich selber zu finden und manchmal kommt am Ende etwas wirklich Gutes dabei heraus, etwas mit Mehrwert. Auch wenn Harald Martenstein findet, die Sisyphos-Metapher werde dieser Tage zu oft in deutschen Feuilletons herbeiztiert: Man muss sich den Schreibenden als glücklichen Menschen vorstellen. Martenstein selbst klagt übrigens immer mal wieder über fehlende Inspiration und den quälenden Blick auf den leeren Bildschirm, die wöchentliche Deadline wie den jüngsten Tag vor dem inneren Auge. Kennen wir doch. Über seine Texte lache ich trotzdem jedesmal.