Durch die Nacht mit… Peter Sloterdijk, einer Flasche Glenfiddich und acht Kroketten

Ein gelungener Theaterabend steht und fällt – wie alles im Leben! – mit seinem Titel. Ich gebe zu, dass ich erst mal nur des Titels wegen die Karte gekauft habe. “Soll mir lieber Goya den Schlaf rauben als irgendein Arschloch” hat schon was für sich. Auf der Bühne dreht sich meditativ ein Taxi auf einer Rasenfläche im Kreis, über und über bedeckt mit dem Material, für das ich keinen Namen habe, das aber auch Discokugeln so schöne Lichtreflexe an die Wände werfen lässt. An das Auto angelehnt liegt ein Mann in einem ausgesprochen unförmigen Pelztierkostüm und es dauert einen Moment, bis man erfreut feststellt, dass es Lars Eidinger ist. Die Handlung ist etwas fragmentiert, aber es ist ja schließlich Post-Dramatik: Der namenlose Protagonist erzählt – rückblickend, vermutlich – wie er auf der Bank sein gesamtes Erspartes, 2000 Euro abhebt, um mal richtig was zu starten und seinen beiden Jungs vorschlägt, gemeinsam nach Madrid zu fliegen, in den Prado einzubrechen und sich dort die ganze Nacht lang Goya anzuschauen. Seine Idee wird mit mäßiger Begeisterung aufgefasst, die Jungs wollen lieber nach Disneyland und der Protagonist bemerkt, dass ein schlecht bezahlter Arbeitnehmer im Plutokostüm wahrscheinlich wirklich die letzte Instanz auf Erden ist, der der moderne Mensch seine Probleme erzählen kann.

Goya fungiert im Stück als eine Art historische Instanz des Bildungsbürgertums, ähnlich den Stapeln von Büchern, die überall auf der Bühne verstreut liegen und von Zeit zu Zeit plakativ aus Eidingers Kostüm herausfallen. Diese Bücher sind “die einzigen sinnvollen elektronischen Geräte” im Haushalt von Eidingers namenloser Familie, eben weil sie keine Haushaltsgeräte sind und elektronisch eigentlich auch nicht, aber wen stört das (E-Books sind es jedenfalls nicht)? Hauptsache, sie breiten sich aus und man kann auf ihnen balancieren und wenn man sie auf der Rasenfläche einpflanzt und gelegentlich gießt, dann gedeihen sie prächtig.

Einige Male wird die Erzählung unterbrochen von, vereinfacht gesprochen, musikalischen Einlagen, die beweisen, dass das Soundsystem der Schaubühne mit jedem Berliner Technoclub mithalten kann. Eidinger steht am Plattenteller mit der Souverenität eines Residents und lässt es so laut wummern, dass die ersten Zuschauer den Saal verlassen. Später werden klassische Melodien eingestreut, deren Zweck ebenso Rätsel aufgibt wie die philosophischen Exkurse und die kapitalismuskritischen Tiraden, auch wenn erstere teilweise nachdenklich stimmen und in Kombination mit den unpassend-schönen Lichtern, die das angestrahlte Auto an den Bühnenhimmel wirft, eine wohlverdiente Atempause im atemlosen Theaterabend bedeuten.

Papas Plan wird nämlich postwendend in die Tat umgesetzt. Via Video werden wir Zeuge der unmittelbaren Vorbereitungen, die der Protagonist im Vorfeld trifft: Er nimmt seine Kinder bei der Hand und, ausgestattet mit pittoresken Masken, auf denen Goya-Fratzen zu sehen sind, machen die drei einen Ausflug durch Westberlin. Das Europa Center, lernen wir, eignet sich als Kulisse für einen surrealen Samstagsbummel ausgezeichnet, weil es absurd genug ist, wenn schwarze Affen im Bademantel mit wackelndem Geschlechtsteil im Schaufenster stehen und der Currywurststand mit seiner originalen alteingesessenen Berliner Besetzung tut sein Übriges. Nachdem die Pommes mit Mayo in der Maske verschwunden sind und mit Becks nachgespühlt wurde, steht das Trio vor der Anzeige im Abflugterminal und macht große Augen.

Ab jetzt übernimmt der echte Eidinger und die Theaterwirklichkeit erlaubt den Zeitsprung nach vorn, wir sind jetzt in Madrid. Leider mag die Rechnung nicht so recht aufgehen: Flug plus mehrstündige Taxifahrt plus Koks plus Nutten (damit die Kleinen gleich mal wissen, was ihr bevorstehendes Leben an sexuellen Abartigkeiten für sie bereit hält) plus eine Flasche Rioja, eine Flasche Glenfiddich und Serranoschinken belaufen sich am Ende auf beinahe 2000 Euro und der Sohnemann rollt mit den Augen “Hab ich dir doch gleich gesagt, Papa, mit scheiss 2000 Euro kommst du nicht mal bis zur nächsten Straßenecke” – aber man ist ja doch in Madrid und so kommt Papa auf die Idee, Peter Sloterdijk mit ins Boot, sprich ins Taxi zu holen. Als Lockmittel fungieren eine große Menge Spirituosen und die Aussicht auf acht Kroketten im Sternerestaurant.

Von diesem Moment an glaubt man sich inmitten einer Total-Groteske zu befinden, deren schwarzer Humor einem die Lachtränen in die Augen treibt (und wirklich: Ich glaube behaupten zu können, dass ich niemals im Theater so unverschämt gelacht habe). Das liegt in erster Linie an dem wunderbaren Einfall, Sloterdijk vom Band herab monologisieren zu lassen. Seine Ausführungen über Jean-Jacques Rousseau, der anno achtzehnhundert-irgendwas in einem Boot auf einem See schaukelt und der Bericht, wie er, Sloterdijk, in einem französischen Supermarkt ratlos vor dem Regal mit Katzenfutter steht und dessen Inhalt ins Deutsche zu übersetzen versucht und dabei zu großen geisteswissenschaftlichen Fragestellungen findet, sind schon unkommentiert ein Genuss; im Zusammenspiel mit Eidingers Mimik und der imaginären Taxifahrt wird einem deren völlige Absurdität erst richtig bewusst.

Manches wirkt gewollt, manches schlichtweg platt, so etwa, wenn Eidinger laut über das unbefriedigende Sexleben des Publikums vor ihm nachdenkt und der Regieeinfall, dabei mit dem Finger auf einzelne Besucher zu zeigen, entlockt nicht mehr als ein müdes Lächeln. Hinter anderen Ansätzen, wie dem Videoeinspieler, in dem Gemälde von Goya mit Disneycharakteren gemixt werden, steckt mehr, als man zunächst ahnt. Wenn Dumbo, der fliegende Elefant, begleitet von einem ohrenbetäubendem Donnerschlag plötzlich über gefolterten Kriegsopfern aufploppt, bleibt dem halbwegs reflektierten Beobachter schnell das Lachen im Halse stecken.

Die allerallerbeste Szene ist dann die, in der wieder Sloterdijks Stimme den Raum erzittern lässt. Andächtig versucht das Publikum sein geistiges Potential zu mobilisieren – auszureizen! – um den recht ausufernden Reden des Philosophen zu folgen, bis dieser eine lateinische Floskel einbaut und sich dabei verspricht (leider kann diese hier nicht wiedergebeben werden, da auch die Rezensentin hochkonzentriert auf das bald folgende lauschte… es wird etwas wie lorem ipsum etc. etc. gewesen sein) und dieser Versprecher unendlich oft wiederholt wird. Überraschenderweise wird das bei jedem Mal lustiger und Eidinger beginnt sich unter konvulsivischen Gesichtszuckungen Weintrauben in den Mund zu stopfen und Sloterdijks Pseudo-Latein nachzusprechen, auf dass ihm der Weintraubenbrei aus dem Mund falle. Der kulturhistorisch vorgebildete Zuschauer mag die Anspielung auf Dionysos erkennen oder nicht (spätestens, wenn Eidinger die Rioja Flasche ansetzt…) – der Anblick dieses mampfenden, sabbernden, brabbelndem Überpapas lässt seinen Rausch in vorbildlicher Manier einer antiken Tragödie aufs Publikum übergehen.

Das ist natürlich gemein und moralisch nicht in Ordnung und tut Sloterdijk, der doch sonst meistens viele kluge Dinge sagt und eben auch mal über seine eigenen Worte gestolpert ist Unrecht. Katharsis ist aber, da bin ich mir ziemlich sicher, nicht immer ethisch korrekt, lachen auch nicht. Ethisch korrekt ist ja auch der Mensch im Sack nicht, den der Protagonist an späterer Stelle aus dem Kofferraum hieft und dessen Gesicht, das heißt die Stelle, an welcher sein Gesicht zu vermuten ist, Eidinger in seinen Schoß drückt. Es ist aber eben auch: Theater.

Ob die Jungs am Ende trotzdem lieber nach Disneyland gefahren wären? Sie werden auf jeden Fall etwas zu erzählen haben und wenn im Kunstunterricht Goya das erste Mal zur Sprache kommt, gleich in ihrem doch sehr kindlich-untypischem Wortlaut stolz von der Fahrt durch Madrid und dem Sprachfehler eines weisen alten Mannes berichten können.

Gut, dass die Idee, ein Stück nach dem Titel auszusuchen, sich diesmal als so wunderbar herausgestellt hat. Oder, um mit Eidinger zu sprechen: Scheisse, ist das geil!